Wer hat Angst vorm bösen Mann?
weil Mitgefühl, Reue oder Selbstkritik nicht zu ihrem Gefühlsrepertoire gehören, gelang es ihnen leicht, bei den Geiseln im Gegenzug Selbstzweifel zu erzeugen – so wie Colleen Stan versuchte, «eine gute Sklavin zu sein», und Natascha Kampusch sich schämte, wenn der Kontrollfreak Priklopil sie wegen unvollständiger Hausarbeit tadelte – nicht nur aus Angst vor Bestrafung, sondern aus dem echten Gefühl der Unfähigkeit heraus, das der Täter bei ihr provozierte.
Zum perfiden Plan der diabolischen Entführer gehörte in den meisten der ähnlich gelagerten Fällen, dass sie mit einer Geschichte aufwarteten. Die bestand darin, dass sie die Opfer eigentlich vor einer noch schlimmeren Gefahr schützen würden – vor einem unheimlichen Dritten oder einem Kinderpornoring. Dass selbst erwachsene Geiseln diese durchsichtigen Märchen für bare Münze nahmen, obwohl keinerlei Beweise vorlagen, kann am ehesten durch Abschaltung der Kritikfähigkeit im Survival-Modus erklärt werden.
Man muss die vom Stockholm-Syndrom befallenen Geiseln also vor Unterstellungen in Schutz nehmen: Sie haben in dieser Situation nicht ihren Verstand verloren, sie sind auch nicht masochistisch veranlagt. Unter bestimmten Konstellationen kann wahrscheinlich jeder von diesem Phänomen befallen werden. Aus den bekanntgewordenen Geiselnahmen wird nicht unbedingt ersichtlich, dass es so etwas wie «das typische Opfer» gibt, also Mädchen oder Frauen, die eine Neigung zu Naivität, Unterwürfigkeit oder Hörigkeit haben. Jeder – ob gefestigt oder seelisch labil – kann ein Stockholm-Opfer werden. Entscheidend scheint die gestörte Persönlichkeit des Täters zu sein.
Ein böser Fluch
Als die Frau namens Allissa nun achtzehn Jahre später nach der Aussage von Phillip Garrido erneut von der Polizei befragt wird, räumt sie ein, die Unwahrheit gesagt zu haben. Sie tischt eine ganz andere Story auf: Phillip Garrido habe die Geschichte mit den Kindern seines Bruders erfunden, um sie zu schützen. In Wirklichkeit stamme sie aus Missouri und verstecke sich seit fünf Jahren vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Allissa weigert sich hartnäckig, ihren richtigen Namen zu nennen. Sie wisse, dass Garrido früher ein schlechter Mensch gewesen sei, der auch Frauen sexuell missbraucht habe. Jetzt habe er sich aber völlig gewandelt und sei ein großartiger Mann, der gut zu ihren Mädchen sei. Nach langen und fruchtlosen Befragungen kommt eine Beamtin herein und sagt: «Garrido hat soeben gestanden, dass er Sie vor einigen Jahren entführt hat. Wie ist Ihr richtiger Name?» [158]
Jaycee Lee Dugard
Was Ken und Barbie machen
Nach langem Zögern schreibt Allissa mit zittrigen Händen ihren Namen, den sie achtzehn Jahre lang nicht benutzen durfte, auf einen kleinen Zettel:
JAYCEELEEDUGARD
Und in diesem Moment war es, als ob ein böser Fluch von ihr abfiel.
Jetzt wurde offensichtlich, dass die Polizei in den letzten Jahren auf der ganzen Linie versagt hatte. Drei Behörden waren für die Überwachung des Vorbestraften Phillip Garrido zuständig gewesen. Obwohl er bereits 1976 in South Lake Tahoe zwei Frauen vergewaltigt hatte, gelang es den Beamten nicht, eine Verbindung zu dem Fall Dugard herzustellen. Wegen der Vergewaltigungen hatte er siebzehn Jahre im Gefängnis Leavenworth in Kansas verbracht. Hier lernte er Nancy Bocanegra kennen, als sie ihren Onkel in der Vollzugsanstalt besuchte, und heiratete sie. Nach seiner Entlassung musste er sich regelmäßig bei seinem Bewährungshelfer melden.
Ein Jahr nach der Verschleppung von Jaycee Lee Dugard rief ein Mann aus Oakley an, das keine zwei Meilen von Garridos Anwesen entfernt liegt. Er habe gesehen, wie ein Mädchen, das Jaycee sehr ähnlich sehe, ein Suchplakat des verschwundenen Mädchens in einer Tankstelle angestarrt habe und dann mit einem gelben Van mitgefahren sei. Garrido hatte einen gelben Van. Diesem Hinweis wurde aber nur oberflächlich nachgegangen.
Im selben Jahr traf ein Bewährungshelfer auf dem Grundstück von Garrido ein zwölfjähriges Mädchen an und akzeptierte ohne nähere Überprüfung dessen Erklärung, es handele sich um die Tochter seines Bruders.
Elf Jahre nach der Entführung erhielt die Feuerwehr die Nachricht, dass sich eine Jugendliche beim Spielen am Swimmingpool der Garridos eine Schulterverletzung zugezogen hätte. Der Bericht wurde nicht an den Bewährungshelfer weitergegeben.
Vier Jahre später riefen Nachbarn die Polizei und berichteten, hinter dem Haus
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