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Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
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kommt die totale Isolation. Man hat – außer mit dem Geiselnehmer – meist keine anderen menschlichen Kontakte.
    Wohlgemerkt: Die Reaktionen eines Opfers basieren nicht auf intellektuellen, kühlen Risikoabwägungen, sondern sind auf einem kognitiv niedrigen Niveau angesiedelt, da primitive Anteile des Gehirns das Kommando übernehmen.
    Bei Haustieren erscheint uns ein solcher Mechanismus nicht ungewöhnlich. Manche Hunde werden von ihren brutalen Besitzern angekettet, geprügelt oder auf Hungerrationen gesetzt – und kommen dennoch freiwillig zu ihrem Herrchen zurück. Und obwohl ein Pferd es sicher nicht als angenehm empfindet, einen schweren Reiter auf dem Rücken herumzuschleppen, kann es dennoch ein Treueverhältnis zu seinem Besitzer entwickeln. Analog dazu können bestimmte, uns unlogisch erscheinende Verhaltensweisen von Geiseln besser durch einen Rückgang auf animalische Anteile des Gehirns erklärt werden. Eine menschliche Geisel unternimmt eine Zeitreise in ein sehr frühes Stadium: in das Säuglingsalter, in dem das Kind unter totaler Kontrolle und zu hundert Prozent von der ernährenden Mutter abhängig war. Der Körper schaltet auf den «Survival-Modus». Den kompletten Verlust der Selbstbestimmung akzeptiert das Kind wohl oder übel, um im Gegenzug ernährt zu werden, denn dabei handelt es sich um das stärkste Grundbedürfnis des Menschen. Dies scheint ein Programm zu sein, das von der Natur gewollt ist und in den Plan des Lebens eingebaut wurde. Es besagt: «Liebe das Wesen, das dir zu essen gibt, egal, wie brutal es ist.»
    Genauso wie bei Menschen, die nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis alle ethischen Vorstellungen über den Haufen werfen und wie die Kannibalen andere Mitreisende verspeisen, um zu überleben, setzen auch bei Stockholm-Opfern höhere soziale und ethische Gehirnfunktionen aus. Alle Systeme werden auf die unterste Stufe des Reptiliengehirns gesetzt. Und dazu gehört auch eine bedingungslose Hingabe zum Ernährer.
    Sind zwei junge Menschen verliebt oder himmelt ein Baby seine Mutter an, schießen Hormone wie Beta-Endorphin, Dopamin, Oxytocin und Vasopressin durch das Gehirn. Kritische Aspekte werden ausgeklammert, wenn die Chemie der Liebe ihr allmächtiges Regime über das Gehirn übernimmt. Ein ähnlicher Zustand tritt wohl ein, wenn bei einer Geisel nach der Befreiung eine unverständliche, wohlwollende Zuneigung zum Täter bestehen bleibt.

Eine gute Sklavin
    Verliebte Menschen blenden alle schlechten Eigenschaften des Partners aus, wie wir gesehen haben. Während das Belohnungssystem angeheizt wird, geschieht parallel Folgendes: Andere Gehirnstrukturen, die für die kritische Bewertung unserer Mitmenschen zuständig sind, werden außer Kraft gesetzt. Und gleichzeitig wird in der Amygdala, dem zentralen Angstzentrum des Gehirns, die Furcht abgeschaltet.
    Auch bei Geiselnahmen scheint dieses Prinzip zu greifen: Die Tatsache, dass es die Gangster waren, die die Opfer aus Sex- oder Geldgier in den Vorhof der Hölle gebracht haben, wird in den Hintergrund gedrängt. Eine gleichsam höhere Gewalt scheint die Kritik am schändlichen Tun der brutalen Kriminellen auszuschalten. Und gleichzeitig mindert dieser merkwürdige Gehirnmechanismus die Todesangst der Betroffenen. Opfer und Täter gehen eine bizarre Symbiose ein: Der Entführer bekommt seine Endorphin-Ausschüttung durch seine Triebbefriedigung, und im Gegenzug wird die Geisel ernährt und am Leben gelassen. Dabei spielt es eine entscheidende Rolle, dass sich das Stockholm-Syndrom besonders dann entwickelte, wenn der Geiselnehmer eine schwere antisoziale Persönlichkeitsstörung hatte. Diese Meister der Manipulation haben ein nahezu überirdisches Talent, andere Menschen für sich zu gewinnen – durch Lügen, Einschüchterung, Drohungen und Gewaltanwendung, aber auch durch Einschleimen und geheucheltes Verständnis.
    Jeffrey Dahmer, Jan-Erik Olsson, Talamanca, Wolfgang Priklopil, Cameron Hooker oder Brian Mitchell zeigten alle Symptome einer schweren Persönlichkeitsstörung und waren so – eher als «gewöhnliche» Gangster – in der Lage, ein Stockholm-Syndrom auszulösen. Sie vermittelten ihren Geiseln gleichzeitig zwei Dinge: «Ich bin wie eine Mutter zu dir, nur von mir bekommst du etwas zu essen», aber auch: «Ich bin zu allem fähig, du hast dein Leben verwirkt, wenn du nicht gehorchst.» Da sie alle in ihrem malignen (bösartigen) Narzissmus zu keinem Moment an der Richtigkeit ihres Tuns zweifelten,

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