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Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
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von Garrido lebten Kinder, er selbst führe sich «psychotisch» auf und sei sexsüchtig. Ein Hilfssheriff kam vorbei und redete eine halbe Stunde mit Phillip Garrido. Der Deputy teilte ihm mit, es handele sich um ein Vergehen, sollten Menschen auf einem Grundstück außerhalb des Hauses in Zelten lebten – und fuhr wieder weg. Nie untersuchte ein Polizist die Schuppen oder die Zelte hinter dem Anwesen. Die Nachbarn mischten sich nicht weiter ein, da sie auch keinen weiteren Kontakt mit dem Ehepaar Garrido hatten – die Familie lebte zurückgezogen. Die Kinder gingen in keine Schule, ihre Mutter brachte ihnen Lesen und Schreiben bei. Niemals sahen sie einen Arzt.
    Garrido wurde von Bekannten als ruhig, gutmütig und intelligent beschrieben. Er hatte ein Musikstudio in einem der Schuppen, in dem er romantische und fromme Lieder aufnahm. Aber er wurde auch als religiöser Spinner angesehen, der sich für eine Art Messias hielt. Sein religiöser Fanatismus habe sich ständig gesteigert, er höre Stimmen von Engeln aus dem Untergrund.

Rorschach-Klecksbilder
    Welche psychischen Schäden kann die totale Gehirnwäsche hinterlassen? Ist die selbstbewusste, ausgeglichene Haltung, die Opfer wie Natascha Kampusch oder Elizabeth Smart nach ihrer Freilassung zeigten, nur eine Fassade, hinter der sich eine zerstörte Persönlichkeit verbirgt? Oder kann es sein, dass sie ohne eine posttraumatische Belastungsstörung davongekommen sind? Erstaunlicherweise zeigte eine Untersuchung, dass ein Stockholm-Syndrom nicht unweigerlich zu einer Belastungsstörung führt. [172]
    Keines der misshandelten Mädchen, die vor Gericht über ihre Torturen berichteten, brach öffentlich in Tränen aus. Alle zeigten eine unglaubliche Selbstbeherrschung und Charakterstärke. Sie waren stolz auf sich, dass sie in ihrer Todesangst nicht klein beigegeben und überlebt hatten.
    Sabine Dardenne fand die Sorge und das Mitleid, die ihr entgegenschlugen, fast so schwer zu ertragen wie ihre Gefangenschaft. Sie beschloss nach einem ersten, unter Druck ihrer Mutter zustande gekommenen Termin bei einem Therapeuten, der sie Rorschach-Klecksbilder deuten ließ, dass sie sich lieber selbst helfen wolle. «Ich verstand in diesem Moment, dass ich wirklich verrückt geworden wäre, wenn ich nicht aufgepasst hätte – nicht wegen allem, was passiert war, sondern wegen der ganzen Warums und Weshalbs danach.» [173] Sie wollte nicht «
la pauvre petite Sabine»
sein, die «arme kleine Sabine», die die Medien aus ihr machen wollten. Sie therapierte sich, indem sie ihre Geschichte niederschrieb.
    Elizabeth Smart teilte in einem Fernsehinterview der Starmoderatorin Oprah Winfrey mit, dass sie nicht unter dem Geschehenen leide. Man habe ihr eine Therapie angeboten – aber sie wolle lieber mit ihren Eltern oder Freunden darüber reden.
    Bei Susanne Siegfried, die in Costa Rica entführt worden war, kam es ebenfalls nicht zu einer Belastungsstörung. Sie fühle sich nicht als «Traumaopfer», teilte sie mir in unserem Gespräch mit.
    An Colleen Stan ist die Entführung nicht spurlos vorübergegangen. Sie leidet bis heute unter den körperlichen Folgen – vor allem unter Gelenkschmerzen. Aber ihre ersten Erfahrungen mit einer Psychotherapie waren nicht hilfreich: «Für 100  Dollar pro Stunde hörte sich der Psychoanalytiker meine Geschichte an, paffte seine Zigarre und sagte nichts», beschrieb Colleen Stan mir ihre Therapieerfahrung. «Nach drei Sitzungen beschloss ich, dass mein Geld anders besser angelegt war.» Heute trifft sie sich gelegentlich mit einer deutschen Psychologin, die sie umsonst behandelt und die ihr sehr hilft. Aber letztlich ist sie – trotz aller widrigen Erfahrungen, die sie auch nach ihrer Befreiung machen musste – keine gebrochene, depressive Frau.
    Man weiß, dass sich selbst nach den schlimmsten Erlebnissen, die Menschen durchmachen müssen, eine posttraumatische Belastungsstörung nur bei einem Teil der Betroffenen ausbildet – und zwar häufig bei Menschen, die schon vor ihrem Trauma unter seelischen Problemen litten. Vielleicht gehörten die Personen aus den geschilderten Fällen zu den robusteren Individuen, die keine bestehende Empfindlichkeit für das Ausbrechen eines Belastungssyndroms hatten. Aber man kann überlegen, ob der unheimliche Mechanismus, der sich im Gehirn der Stockholm-Opfer abspielt, vielleicht sogar eine Schutzfunktion hat, der solche psychischen Schäden verhindert. So wie der Survival-Modus des Gehirns

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