Wer hat Angst vorm bösen Mann?
aus dem Tritt gebracht hatte?
«Mein Mann hatte sich in einer Kur verliebt. Er hatte seiner Geliebten sogar eine Wohnung angemietet. Irgendwann erfüllte er wohl ihre Ansprüche nicht mehr. Sie hat mir einen Brief geschrieben, und wir haben uns zum Kaffee getroffen. Ich habe dann die Scheidung eingereicht.»
Lag es daran, dass sie schon mit zwölf Jahren ihren Vater verlor und ihre Mutter darauf dem Alkohol verfiel?
Das alles können keine hinreichenden Erklärungen sein. Solche Schicksale sind alltäglich, und niemand wird deswegen zum Serienmörder.
Der Gutachter attestierte Irene Becker eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Das Gericht urteilte, sie habe aus niederen Beweggründen gehandelt und in den Tötungen ihrer Machtbesessenheit Ausdruck verliehen. [245]
Ich lasse Frau Becker auf mich wirken. Als Psychiater versucht man in solchen Gesprächen automatisch, Hinweise für eine offensichtliche psychische Störung zu finden, auch wenn es sich hier um ein Interview und nicht um eine Befunderhebung handelt. Aber genau das gelingt mir nicht. Ich finde in der Befragung keine Hinweise für eine frühere Borderline-Störung, und auch die Attribute einer antisozialen Persönlichkeit springen mir nicht ins Auge. Man bemerkt eine verhaltene narzisstische Komponente – wenn sie mit einem gewissen Stolz über bekannte Autoren berichtet, die sie bereits in der Zelle besucht haben, wobei dieser Dünkel angesichts der zugrundeliegenden Taten doch einigermaßen unangemessen erscheint. Ihre Menschenverachtung kommt nur verhalten zutage, etwa wenn sie an den falschen Stellen etwas zu hämisch lacht. Und das ist genau das Gefährliche: Geschickt verbirgt sie ihr offensichtlich vorhandenes Aggressionspotenzial und stellt sich als nachdenkliche Person dar, die sich mehr als andere im medizinischen Bereich tätige Menschen Gedanken über humanes Sterben macht. Sie ist zu erfahren im Umgang mit Psychiatern, Psychologen und Richtern, als dass sie ihr wahres Wesen offen zur Schau trägt.
Im «Gitterhotel», wie Irene Becker ihre derzeitige Unterkunft nennt, spielt sie in der Theatergruppe in dem Stück
Schuld und Sühne
– eine Bühnenfassung nach dem Dostojewski-Roman, und sie hilft bei den Dreharbeiten zu einem Kurzfilm mit dem Titel
Die Würde des Menschen
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Irene Becker
Die Würde des Menschen
Wasserwacht und Jugendrotkreuz
Anja K. [12] lag im Krankenhaus in Sonthofen. Eines Tages wurde eine weitere Patientin in ihr Zimmer gelegt, eine Seniorin mit Speiseröhrenkrebs, die beim Essen laute Würgegeräusche machte. Anja beklagte sich darüber bei ihrem Freund, Stephan L., der zufällig Krankenpfleger auf dieser Station war. Er versprach Abhilfe. Am nächsten Tag erlitt die alte Frau einen Atemstillstand und wurde auf die Intensivstation verlegt.
Der siebenundzwanzigjährige Stephan L. aus dem bayerischen Sonthofen war in der Krankenpflegeausbildung ein überaus engagierter Schüler, ein netter Kerl, der in seiner Klasse anerkannt war und sich rege am Unterricht beteiligte. Seine Ausbilderin attestierte ihm «durchweg auf allen Stationen erfolgreiche Beurteilungen». [251] Er engagierte sich bei der Wasserwacht und beim Jugendrotkreuz.
Es war kein brutales Sterben, sondern ein sanftes Dahinscheiden, wenn Stephan L. tötete. Zwischen 2003 und 2004 spritzte er im Krankenhaus von Sonthofen insgesamt achtundzwanzig Patienten zu Tode und wurde deshalb zu lebenslanger Haft verurteilt. Er begann schon vier Wochen nach Abschluss seiner Ausbildung mit den Morden. Einige Patienten kannte er noch nicht einmal eine Stunde, bevor er ihnen die tödliche Injektion verabreichte. Mit manchen seiner Opfer hatte er kaum ein Wort gewechselt. Viele litten nicht an tödlichen Erkrankungen und hätten noch ein langes, erfülltes Leben vor sich gehabt.
Einem über achtzig Jahre alten Mann spritzte er seinen tödlichen Medikamentencocktail in den Tropf, als dieser auf der Toilette saß. Während der Pfleger das Bett neu bezog, fand eine Kollegin den Toten im Bad. «Da lässt er mich das Bett machen, das hätte ich mir aber auch sparen können», war Stephan L.s Kommentar. [252] Auch in dem Fall der Krebspatientin, die die Ruhe seiner Freundin störte, hatte Stephan L. den Atemstillstand mit einem gefährlichen Medikamentenmix herbeigeführt.
Man kann wohl kaum davon sprechen, dass der junge Krankenpfleger beruflich überfordert oder den emotionalen Belastungen beim Umgang mit Leidenden nicht gewachsen war. Es ist
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