Wer hat Angst vorm bösen Mann?
haben. Aber nicht wenigen Autokraten gelingt es, große Teile des Volkes auf ihre Seite zu ziehen. Unter den einförmigen Menschenmassen, die bei Militärparaden ihrem Staatsoberhaupt Kim Jong Il mit den Blumen der Sorte Kimjongilia (in Rot) oder Kimilsungia (in Pink) zuwinkten, befanden sich Unzählige, die nicht zum Jubeln gezwungen wurden, sondern den bizarren Regenten aufrichtig liebten und verehrten. Selbst wenn in einer Stadt 100 000 Menschen gegen eine Diktatur demonstrieren, gibt es in derselben Stadt vielleicht eine Million Menschen, die nicht in Gegnerschaft zum Regime stehen.
Wir finden bei den alleinherrschenden Despoten erstaunliche Parallelen zu den egozentrierten Sektengurus, die auf unerklärliche Weise Menschen in ihren Bann ziehen. Es handelt sich dabei in allen Fällen um Personen, deren Streben wegen ihrer extremen narzisstischen und antisozialen Züge auf die totale Kontrolle ihrer Mitmenschen ausgerichtet ist. Gleichzeitig beherrschen sie die Technik der Willenslenkung perfekt. Wie in religiösen Kulten ist auch in einem totalitären Staat alles auf eine Person und deren Denken ausgerichtet. Wie in den Sektenkolonien müssen in Diktaturen Menschen Mantras auswendig lernen und gebetsmühlenartig Lieder auf den «geliebten Führer» singen. So wie in solchen Staaten Geheimpolizisten eine wesentliche Voraussetzung des Machterhalts sind, dient in der Sekte die gegenseitige Bespitzelung der Ausschaltung von Zweiflern. Das Leben wird auf Anbeten und Arbeiten reduziert. Es wird Askese gepredigt, während das Staatsoberhaupt und seine Führungsclique grenzenlose Verschwendung üben – wie wir es auch bei Bhagwan, Mun, Berg und Jones gesehen haben.
Und wir erkennen auch Parallelen zu den Sadisten, die Kinder entführen und missbrauchen. Da die «geliebten Führer» ihre Gefangenen ständig hungern lassen, erscheint diesen jede spärliche Nahrungsration wie ein unverhofftes Geschenk. Somit werden die Überlebensfunktionen des Gehirns aktiviert, die paradoxerweise jene enge, Mutter-Kind-ähnliche Bindung mit dem Geiselnehmer erzeugen. Auch ein hungerndes Volk wird in den biochemischen Notstand versetzt. Während das Vernunftgehirn eigentlich wissen müsste, dass der Nahrungsmangel durch Misswirtschaft und Verschwendung der Führungsclique entstanden ist, sehen die primitiven Anteile des Gehirns, die im Hungerzustand aktiviert werden, im totalitären Herrscher paradoxerweise die ernährende Mutter, wenn die Menschen ihre karge Lebensmittelzuteilung bekommen. So kann man die Hirnchemie mitverantwortlich machen, um die sklavische Hörigkeit eines unterjochten Volkes zu erklären.
Können sich größenwahnsinnige Despoten nur in Ländern etablieren, in denen die Volksmassen bettelarm und ungebildet sind? Als Deutscher kann man so nicht argumentieren, denn der Hitler-Hype erfasste alle in Deutschland, von den bildungsfernen Menschen bis zur Hochintelligenz.
Wenn eine ganze Nation einem antisozialen Alleinherrscher auf den Leim geht, kann man von einem kollektiven Stockholm-Syndrom sprechen. Wenn die animalischen Anteile des Gehirns als Geisel genommen werden, spielt es eine untergeordnete Rolle, ob der Rest des Gehirns den Hauptschulabschluss oder ein Universitätsdiplom hat.
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6 . Großmütige Helfer
Die barmherzigen Schwestern
Die Intensivstation der Berliner Charité. Der Krankenpfleger Richard G. [11] wundert sich, dass seine Kollegin dem herzkranken Gerhard A. offenbar eine Injektion verabreicht. Von einer entsprechenden ärztlichen Anordnung stand nichts in der Krankenakte. Richard G. hatte das charakteristische «Ploppen» gehört, als die leere Ampulle in den Müll flog – wo sie nicht hingehört, denn dafür gibt es spezielle Behälter, um Verletzungen zu vermeiden. Als der Patient kurz darauf stirbt, wird Richard G. misstrauisch. Er fischt die Ampulle aus dem Abfall, mit Einweghandschuhen, um Fingerabdrücke zu vermeiden. Es handelt sich um Nitroprussid, das den Blutdruck stark senkt und das dazu noch in einer massiven Überdosis gegeben worden war. Leichenblass berichtet der Pfleger den Vorfall zwei Kollegen.
«Als ich ein Kind war, bekam ich einen kleinen Doktorkoffer geschenkt. Das war die Zeit, als ich zum ersten Mal vom Beruf der Krankenschwester schwärmte. Es war immer mein Traumjob gewesen. Später war er mir fast wichtiger als meine Ehe», erzählt mir die sechzigjährige Irene Becker bei unserer Begegnung. Auf mich wirkt sie wie die typische,
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