Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Selbstbewusstsein und Ausgeglichenheit ertrug. Eine Welle der Sympathie und des Mitgefühls schlug der Familie entgegen. Spenden aus dem ganzen Königreich trafen ein. Die Familie bekam zwei Schiffskreuzfahrten geschenkt. Ein Designer baute ein Ferrari-Modell für die Sauerstoffpumpe, um Sean sein bedauernswertes Leben ein wenig zu erleichtern.
Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Im Jahr 2009 wurde Lisa zu all dem Unglück auch noch von einem unbekannten Motorradfahrer überfallen und vergewaltigt. Übersät mit Wunden, erschien sie auf einer Polizeidienststelle. Hunderte von Polizisten suchten nach einem Täter, der der Beschreibung des Opfers entsprach, einem schwarzgekleideten Biker mit einem silbernen Kruzifix um den Hals. Bald fand die Polizei einen Verdächtigen.
Aber als es zu einer Gegenüberstellung mit dem mutmaßlichen Täter kommen sollte, brach Lisa zusammen. Sie räumte ein, die Vergewaltigung erfunden zu haben. Sie hatte sich selbst Schürfwunden zugefügt und Bleichmittel in die Wunden gerieben, um sie dramatischer aussehen zu lassen. Als Grund gab sie an, sie habe verhindern wollen, dass Sean zu einer erneuten Untersuchung in ein Krankenhaus aufgenommen wurde. Dabei hätte sich nämlich herausstellen können, dass Sean gar nicht unter Diabetes litt, wie bislang vermutet wurde. Dr. John Broomhall, ein Oberarzt der Klinik, hatte schon lange vorher den Verdacht gehegt, dass das Kind übertherapiert wurde – und sich an die Polizei gewandt.
Sean wurde sofort eingehend in der Klinik untersucht. Das Ergebnis war tröstlich und erschreckend zugleich: Der Junge hatte überhaupt nichts – keinen Diabetes, keine Mukoviszidose, keine zerebrale Lähmung, keine Allergien. Lisa Hayden-Johnson hatte alle diese Krankheiten erfunden und die Ärzte mit zahlreichen Berichten über Symptome getäuscht. Den gutgläubigen Medizinern hatte sie vorgegaukelt, dass die verordneten Medikamente leider nicht den gewünschten Erfolg hatten, sodass immer wieder neue Therapien versucht wurden. Seans Urin versetzte sie mit Zucker, um bei den Tests Diabetes vorzutäuschen. Wahrscheinlich gab sie ihrem Sohn vor Untersuchungen sogar große Mengen konzentrierter Zuckerlösungen zu trinken, um die Bluttests zu verfälschen. Sie ließ Sean hungern und zog ihm einen schlechtsitzenden Anzug an, sodass es aussah, als ob er ständig an Gewicht verliere.
Bei der Hausdurchsuchung fanden die überraschten Detectives eine Einrichtung vor wie in der amerikanischen Fernsehserie
Emergency Room
. Sean schlief in einem Spezialbett. Daneben fanden sich die Sauerstoffflaschen und eine Pumpe für die künstliche Nahrungszufuhr. Große Stapel mit ungeöffneten Packungen der Sondennahrung wurden im Nebenraum aufbewahrt. Während der «Pflege» des Kindes trug die Mutter eine grüne Krankenschwesteruniform.
Was den Kriminalisten auch noch auffiel, waren Videos von einer der beiden Kreuzfahrten, die Mutter und Sohn unternommen hatten: Da sah man Sean in einer Badehose an einem Strand herumlaufen. Jetzt meldeten sich auch Zeugen, die gesehen hatten, wie Sean immer wieder aus dem Rollstuhl kletterte, mit anderen Kindern Fußball spielte oder Fahrrad fuhr. Das Kind, das angeblich eine Weizen- und Glutenallergie hatte, wurde beobachtet, wie es gegrillte Hamburger mit Pommes frites, Süßigkeiten, Eiskrem und Roastbeef mit Yorkshire-Pudding aß. Sean war gesund. Er hatte überhaupt nichts, wenn man von den Folgen der unnötigen ärztlichen Eingriffe absieht, wie dem Legen der Bauchsonde.
Lisa Hayden-Johnson hatte ihr Kind sechs Jahre lang mit unzähligen schmerzhaften Untersuchungen und Operationen gefoltert. Zudem hatte sie durch ihre Irreführung Kosten in Höhe von 130 000 britischen Pfund verursacht: für unnötige medizinische Behandlungen, den Rollstuhl, das Spezialbett, das Behindertenauto, den rollstuhlgerechten Umbau der Schule und für die gespendeten Kreuzfahrturlaube. Nach der angeblichen Vergewaltigung durch den mysteriösen Motorradfahrer hatte Lisa Hayden-Johnson es sogar durchgesetzt, ein zweites behindertengerechtes Auto zu bekommen, weil sie die Befürchtung geäußert hatte, der Täter könnte das alte wiedererkennen. Sich selbst verschaffte sie Einnahmen in Höhe von 200 000 Pfund durch Magazinberichte, Talkshows und Schadensersatzforderungen gegen Ärzte.
Warum hatten die Ärzte und Krankenschwestern nicht früher Verdacht geschöpft? Vermutlich, weil niemand sich vorstellen konnte, dass eine Mutter ihr eigenes Kind
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