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Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
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sind bereits abgesetzt. Nur Schmerzmittel werden verabreicht. Angst, Atemnot oder Übelkeit werden bekämpft, und die Patienten werden weiter künstlich ernährt. Die Intensivpflegerin Irene Becker setzt konsequent in aktiver Form fort, was die Ärzte durch passives Verhalten bereits begonnen hatten.
    Irene Becker weiß zwar, dass das deutsche Gesetz aktive Sterbehilfe verbietet, hält dies aber für eine Gesetzeslücke, die in individuellen Fällen dazu führt, dass Patienten unnötig leiden. Sie hofft, dass solches Handeln eines Tages legal wird. Das fünfte Gebot, «Du sollst nicht töten», müsse dementsprechend überarbeitet werden. Sie sieht sich als «Mitwirkende des göttlichen Willens», wie sie mir gegenüber äußert. «Früher gab es den hippokratischen Eid. Heute, mit der Hightech-Medizin, ist das anders; man kann ein Leben fast beliebig verlängern», argumentiert Irene Becker weiter. «In anderen Ländern ist die aktive Sterbehilfe erlaubt. Sterbehilfevereine wie die Schweizer ‹Dignitas› und die deutsche ‹Dignitate› – das sind hervorragende Gemeinschaften.»
    Also war, was sie getan hat, ein mutiger Akt des Mitleids. Und weil es Mitleid war, muss man sich auch nicht bei den Angehörigen entschuldigen. Ihre Logik klingt in sich schlüssig.
    Wenn da nicht die Aussagen wären, nach denen das Verhalten der Schwester Irene nicht immer von Empathie und Mitgefühl geprägt war. Verbalaggressiv, rabiat, grob, respektlos, unsensibel und verächtlich habe sie manche Patienten behandelt, berichteten ihre ehemaligen Mitarbeiter im Zeugenstand. [241] Beim Umlagern der Patienten sei sie ruppig gewesen. Einem harninkontinenten Patienten habe sie Boxschläge verpasst und einer verwirrten Patientin auf die Hand geschlagen, weil sie sich mit Kot beschmiert hatte. Nachdem sich ein Patient beschwert hatte, dass sie gegen ihn tätlich geworden sei, obwohl er kooperativ und ansprechbar war, zog die Klinikleitung keine Konsequenzen.
    Und dann waren da noch diese häufigen Zwischenfälle, in denen sie das Leben von Patienten hochgradig gefährdete – die man bei einer so erfahrenen Schwester kaum durch Unachtsamkeit erklären kann. Einmal habe sie einer Kollegin ein falsches Medikament übergeben mit der gegenteiligen Wirkung, allerdings ohne dass der Patient bleibende Schäden davontrug. Vier Jahre vor den ersten nachgewiesenen Morden habe sie während einer Reanimation mehrfach geäußert, dass es keinen Sinn mehr mache – und dann eigenmächtig das Beatmungsgerät abgeschaltet. Der Arzt konnte nicht fassen, was sie getan hatte, und setzte es wieder in Betrieb. Der Patient überlebte. Nach einer lautstarken Diskussion mit dem Mediziner wuchs Gras über die Sache. [242] Einmal spritzte sie eine unsterile Kochsalzlösung.
    Auch bei mehreren anderen Wiederbelebungsmaßnahmen habe sie das Leben der Patienten durch technische Fehler wie mangelnde Sauerstoffzufuhr aufs Spiel gesetzt. Ein Arzt, der gerade vor zwei Tagen auf der Station angefangen hatte, musste sich während einer Rettungsmaßnahme von ihr anhören, dass er sich gegen die Gesetze Gottes auflehne und Patienten nicht sterben lassen könne. [243]
    Die Pflegerin war dafür bekannt, dass sie immer wieder ihre Kompetenzen überschritt, indem sie ärztliche Anordnungen anzweifelte oder nicht ausführte. Daher stand sie unter Beobachtung; es wurden aber keine Maßnahmen ergriffen.
    Ging es ihr darum, den ungeliebten Kollegen aus der Ärzteschaft das unglaublich befriedigende Siegergefühl zu nehmen, einen Sterbenden ins Leben zurückgeholt zu haben, indem sie deren Reanimationsbemühungen mit einem heimlich in die Infusion gespritzten Blutdrucksenker auf einen Schlag zunichtemachte?
    «Besserwisserisch, kritikfreudig, von oben herab, dominant, nicht wirklich kollegial» sei sie gewesen, so die Meinung ihrer Arbeitskollegen. [244] Aber dann wird sie wiederum als kompetent, erfahren und engagiert beschrieben. Man habe mit ihr auf einem hohen Niveau über ethische Fragen diskutieren können.
    Zehn Jahre vor den Morden wurde ihr die Stelle als Stationsleiterin im Jüdischen Krankenhaus in Berlin aufgekündigt – Gründe waren ihre herrische Art und ihre Unfähigkeit zur Kooperation. «Ich wurde rausgemobbt», sagt sie heute. In ihrer nächsten Stellung musste sie wieder als einfache Krankenschwester arbeiten. War es die Verbitterung über diese Degradierung, die bei ihr eine Veränderung auslöste? Oder war es die Scheidung, die Irene Becker zu dieser Zeit

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