Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
Vom Netzwerk:
gewissenhafte, unauffällige ältere Pflegerin.
    Fünfunddreißig Jahre arbeitete sie in diesem medizinischen Tätigkeitsfeld. Teamkollegen und Vorgesetzte beschrieben sie als überaus engagiert, berichtet sie. Besonders gern kümmerte sie sich um schwerstkranke Intensivpatienten und übernahm auch Tätigkeiten, vor denen andere sich gern drückten, wie das Säubern und Zurechtmachen der Leiche, wenn ein Kranker verstorben war. «Andere haben mich deswegen bewundert», sagt Irene Becker heute.
    Ihr medizinischer Wissensstand sei in mancher Hinsicht auf dem Niveau der Ärzte gewesen. Und sie sang und pfiff bei der Arbeit – nicht gerade ein Ausdruck von Arbeitsunzufriedenheit oder Burn-out.
    Im Jahr 2005 wird der sechsundsechzigjährige Hans-Joachim S. auf der Intensivstation der Berliner Charité reanimiert. Irene Becker spritzt ihm dabei ein blutdrucksenkendes Mittel. Auf der Wachstation darf das Pflegepersonal ohne Rücksprache mit dem Arzt Injektionen verabreichen. Daher merken die Ärzte nicht, dass es genau das falsche Medikament ist, da es den ohnehin schwachen Druck noch weiter senkte. Sieben Minuten später stirbt der Patient.
    Mein Gespräch mit Irene Becker findet im Frauengefängnis Berlin-Pankow statt. Dort sitzt sie seit 2007 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes in fünf Fällen ab. Sie hatte zwischen 2005 und 2006 schwerkranken Patienten im Alter von achtundvierzig bis siebenundsiebzig Medikamente wie das starke Blutdruckmittel Nitroprussid in viel zu hoher Dosis verabreicht. In drei weiteren Verdachtsfällen konnte man ihr nichts nachweisen.
    «Nur vier Menschen habe ich getötet, den fünften, den man mir vorwirft – das habe ich nicht gemacht», behauptet die ehemalige Krankenschwester heute.
    Die Klinikleitung musste sich schwere Vorwürfe anhören. Im Fall von Gerhard A. meldete der Krankenpfleger Richard G. seinen schrecklichen Verdacht zwar seinen Kollegen, doch er bat sie, darüber zu schweigen und lediglich Schwester Becker weiter zu beobachten. Danach fuhr er in den Urlaub. Die asservierte Ampulle übergab er einem Freund. [240] Erst mit wochenlanger Verspätung erfuhren die Stationsärzte von dem ungeheuerlichen Verdacht. In dieser Zeit starben weitere Menschen durch die Hand der «Todspritzerin».
    In zwei Jahren verschieden während Beckers Dienstzeit auf der Station neununddreißig Patienten – das war eindeutig über dem Durchschnitt. Man mutmaßte, es läge daran, dass Frau Becker mehr Schwerkranke pflegte als andere. Niemand hatte sich vorstellen können, dass die gewissenhafte Schwester mit dem «Helfersyndrom», die immer auf Qualität in der Pflege pochte, Patienten ermordete. Es waren ja Patienten, deren Tod nahte. In allen Fällen hatten die Ärzte sich entschieden, von lebensverlängernden Maßnahmen Abstand zu nehmen.
    «Warum habe ich nicht gewartet? Warum musste ich da noch eingreifen? Es wäre ohnehin ohne mein Zutun geschehen», fragt sich Irene Becker heute. «Ich verstehe es selbst nicht mehr. Da fehlt mir was. In Gesprächen mit meiner Psychologin versuchen wir das herauszufinden.»
    Keiner der Patienten hatte jemals den Wunsch geäußert, sterben zu wollen, oder eine Patientenverfügung unterzeichnet, die lebensverlängernde Maßnahmen ausschließt. Auch die Angehörigen hatten nichts in dieser Richtung zum Ausdruck gebracht.
    «Zwei der Patienten waren im Koma gewesen und die beiden anderen nicht in der Lage, ihren Willen zu äußern», räumt Irene Becker ein.
    «Was haben Sie empfunden, wenn bei den Patienten schließlich der Tod eingetreten war?», frage ich.
    «Ich habe auf die Gesichter geschaut, habe die Ruhe, die Entspannung wahrgenommen und gedacht: Jetzt hat er es geschafft.»
    «War es so etwas wie Befriedigung?»
    «Ja, aber ich habe nicht etwa einen Kick beim Töten empfunden, das glaube ich auf keinen Fall.»
    «Bereuen Sie, was Sie getan haben?»
    «Wenn ich gefragt werde, ob ich es bereue, dann sage ich ja. Auch dass ich den Angehörigen Leid zugefügt habe. Aber meine Meinung ist: Das war kein Mord, darunter verstehe ich etwas anderes, etwas Brutales, Gewalttätiges. Ich habe das Sterben verkürzt, nicht das Leben.»
    Eine plausible Erklärung. Eine Krankenschwester mit jahrzehntelanger Diensterfahrung, die die Überlebenschancen eines schwerkranken Patienten recht gut überblicken kann, weiß, dass sie jemanden vor sich hat, den die Ärzte aufgegeben haben. Alle Medikamente, die das Leben verlängern würden, wie Kreislaufpräparate,

Weitere Kostenlose Bücher