Wer hat Angst vorm boesen Wolf
»Davon gehe ich aus, falls ein Arzt dabei ist. Aber unsere Fragen wird er wohl kaum beantworten. Jedenfalls nicht so, daß wir es verstehen könnten. Und wenn er es wirklich getan hat, wird er sicher nicht verurteilt werden.«
»Nein, wohl kaum.«
Sejer rieb sich die Augen. »Es war eine Zwangseinweisung, ja?«
»Ja.«
»Er wirkte also bedrohlich?«
»Das weiß ich alles nicht so genau. Es ist schon möglich, daß er vor allem für sich selber eine Gefahr war.«
»Selbstmordversuch? «
»Keine Ahnung. Sprechen Sie mit seinem Arzt. Errki ist seit einigen Monaten in der Klinik, irgend etwas müssen die also inzwischen wissen. Obwohl ich nicht glaube, daß jemand ihn wirklich durchschauen kann. Mir kommt er vor wie ein chronischer Fall. War schon als kleines Kind anders als die anderen.«
»Leben die Eltern noch?«
»Vater und Schwester. Sie leben in den USA.«
»Hat er eine Privatadresse?«
»Eine Sozialwohnung. Da haben wir schon nachgesehen. Und ich habe mit einem anderen Bewohner gesprochen, der uns Bescheid sagt, wenn er auftaucht. Bisher hat er sich dort nicht blicken lassen.«
»Ist er Finne?«
»Sein Vater. Errki ist in Valtimo geboren. Er war vier, als sie nach Norwegen gekommen sind.«
»Hat er irgendwas mit Drogen zu tun gehabt?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Körperlich stark?«
»Kein bißchen. Seine Kräfte sitzen anderswo.« Gurvin tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Skarre starrte den Bildschirm an. Er versuchte, die Augen unter den schwarzen Haaren einzufangen, aber es gelang ihm nicht.
»Irgendwie verstehe ich das jetzt besser, wo ich den Film sehe«, sagte er. »Er benimmt sich nicht so, wie man das von jemandem erwartet, der in einer Bank überfallen und als Geisel genommen wird. Er wehrt sich nicht. Sagt kein Wort. Was mag wohl in seinem Kopf ablaufen?«
Er schaute zu Gurvin hinüber und zeigte auf den Bildschirm.
»Er horcht auf etwas.«
»Innere Stimmen?«
»Sieht so aus. Ich habe häufiger gesehen, wie er mit dem Kopf nickt, als lausche er einer Art innerem Monolog.«
»Aber er sagt nie etwas?«
»Nur sehr selten. Er spricht auf eine seltsame, feierliche Weise, und in der Regel versteht niemand, was er sagen will. Und dieser Desperado mit der schwarzen Mütze hat wohl auch nicht viel begriffen, falls sie überhaupt miteinander gesprochen haben.«
»Kennt er sich in der Gegend gut aus?«
»Sehr gut. Er ist immer unterwegs. Ab und zu versucht er es mal per Anhalter, aber nicht viele wagen es, ihn mitzunehmen. Er fährt gern Bus oder Zug. Hin und her. Will in Bewegung sein. Es ist ihm egal, wo er schläft. Auf einer Parkbank. Im Wald. An einer Bushaltestelle.« »Und absolut keine Freunde?«
»Er will keine.«
»Haben Sie ihn gefragt?« hakte Sejer nach.
»Errki fragt man nicht. Man geht ihm aus dem Weg«, erwiderte Gurvin schlicht.
Sejer dachte nach. Seine kurzgeschnittenen grauen Haare funkelten in der Sonne. Er erinnerte Gurvin an einen griechischen Asketen, nur fehlte der berühmte Lorbeerkranz um den Schädel. Sejer hing noch lange seinen Gedanken nach und kratzte sich zerstreut am Ellbogen.
»Ich dachte, in diesem Heim leben nur alte Leute«, sagte er endlich.
»Früher war das so«, erwiderte Gurvin. »Jetzt gibt es eine jugendpsychiatrische Abteilung mit vierzig Patienten, verteilt auf vier Stationen, eine ist geschützt. Oder geschlossen, wie wir sagen würden. Ich war einmal mit einem Jungen aus Guttebakken dort.«
»Ich muß mich unbedingt mit dem Arzt in Verbindung setzen. Warum kann niemand sagen, ob Errki gefährlich ist oder nicht?«
»Es gibt so viele Gerüchte.« Gurvin sah ihn an. »Er ist der Typ, der für alles verantwortlich gemacht wird. Soviel ich weiß, ist er noch nie kriminell geworden, abgesehen von Schwarzfahrerei und Ladendiebstählen. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«
»Was stiehlt er?«
»Schokolade.«
»Und er hat keinen Kontakt zu seiner Familie?«
»Er will sie nicht sehen, und sie können ihm ja auch nicht helfen. Der Vater hat seinen Sohn als hoffnungslosen Fall abgeschrieben. Und Sie dürfen ihm da keine Vorwürfe machen. Für Errki gibt es ganz einfach keine Hoffnung.«
»Vielleicht ist es gut, daß sein Arzt Sie nicht hören kann«, sagte Sejer leise.
»Schon möglich. Aber er war schließlich fast sein Leben lang krank. Auf jeden Fall seit dem Tod seiner Mutter vor sechzehn Jahren. Und das sagt doch einiges.«
Sejer erhob sich und schob den Sessel unter den Schreibtisch. »Gehen wir einen Kaffee
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