Wer hat Angst vorm starken Mann? - Mallery, S: Wer hat Angst vorm starken Mann?
war er also nicht mit einer anderen Frau liiert? Warum war er nicht verheiratet? Sie wusste, er war geschieden, aber warum hatte ihn sich nicht längst eine unternehmungslustige Frau geschnappt?
Kann dir egal sein, ermahnte sie sich. Sie hatte drei Embryonen, die sie in absehbarer Zukunft beschäftigen würden.
„Erde an Pia“, sagte Raoul und musterte sie mit intensivem Blick.
„Du kannst bleiben“, flüsterte sie.
Unter normalen Umständen hätte sie ihn aus reinem Selbsterhaltungstrieb fortgescheucht. Ihn in ihrer Nähe zu haben, bedeutete ein gefährliches Risiko für ihr Herz. Aber das war ja kein Thema. In ein paar Tagen würde sie wieder zu ihrer Ärztin gehen und vermutlich Crystals Embryonen eingesetzt bekommen. Dann war sie schwanger. Sich zu verlieben würde ihr nicht passieren – jedenfalls nicht auf romantische Art und Weise. Kein Mann wäre an einer Frau mit drei Kindern interessiert, noch dazu, wenn es nicht einmal ihre eigenen waren. Zudem war es für sie unvorstellbar, auch nur einen Hauch von zusätzlicher Energie aufbringen zu können, um sich mit einem Mann zu verabreden.
Also war es völlig ungefährlich, sich auf die Seite zu drehen und sich an Raouls warmen Körper zu schmiegen. Mit seinen kräftigen Armen umschlang er ihre Taille und zog Pia fest an sich. Sie schloss die Augen und erlaubte sich einen Moment lang, ein völlig unreales Glücksgefühl auszukosten. Nur für eine Nacht, sagte sie sich. Was auch passierte, die Realität würdesie morgen früh schnell genug wieder einholen. Darauf konnte sie zählen.
Die Fool’s Gold Highschool lag etwas oberhalb des Ortes an der Straße, die zum Skigebiet führte. Der Campus war erst fünf Jahre alt, verfügte über ein naturwissenschaftliches Gebäude, das auf dem neuesten Stand der Technik war, eine große Sporthalle sowie eine Aula, in der fünfhundert Personen Platz fanden.
Raoul stand auf der Bühne und blickte auf die Schüler, die sämtliche Plätze in der Aula belegten. Er hatte das Rednerpult beiseitegeschoben, weil er lieber hin und her ging.
„Ich bin nicht von Geburt an reich und berühmt gewesen“, erzählte er den Kindern. „Als ich in eurem Alter war, lebte ich in einer Pflegefamilie und kämpfte gegen das System, das dafür verantwortlich war, mich durchzufüttern und mich einzukleiden. Ich wusste, dass sich niemand für mich interessierte. Kein Mensch. Für den Sozialarbeiter war ich eine Fallnummer, für die Pflegefamilie lediglich ein zusätzliches Einkommen.“
Er machte eine Pause und begegnete den Blicken mehrerer Jungs im Publikum.
„Einige Familien kümmern sich wirklich um die Kinder, die sie aufnehmen, und das finde ich bewundernswert. Ich habe solche Geschichten gehört, aber gesehen habe ich solche Fälle so gut wie nie. Die Sozialarbeiter, die ich kennengelernt habe, waren allesamt überarbeitet. Sie haben ihr Bestes versucht, aber sie hatten weder das Werkzeug noch die finanziellen Mittel. Also bin ich in Sachen hineingeraten, die ich lieber hätte meiden sollen.“
Er ging an den Rand der Bühne und sah die Schüler eindringlich an. „Gangs mögen aus der Entfernung ziemlich attraktiv wirken. Sie geben dir ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl. Dein Status wächst, wenn du mit den richtigen Leuten zusammen bist. Du bist von Leuten umgeben, die dich akzeptieren. Wennsie verrückt genug sind, weißt du nie, was als Nächstes passiert, und das kann auch Spaß machen.“
Er zuckte mit den Schultern. „Es kann aber auch dazu führen, dass du schlimmer dran bist, als du dir je hast vorstellen können. Schwanger. Im Gefängnis. Oder tot.“ Er ließ die Worte eine lange Zeit in der Luft hängen.
„Mit sechzehn glaubt ihr, die Zukunft – das Erwachsensein – sei noch weit weg, aber ich bin hier, um euch zu erzählen, dass es ratsam ist, vorausschauend zu denken. Es ist gut, wenn man weiß, was man will, und dann dieses Ziel verfolgt, auch wenn einem unzählige Leute sagen, es wäre nicht möglich. Ich habe die ersten Monate meines Abschlussjahres als Obdachloser in einem verlassenen Gebäude zugebracht. Ich hatte Freunde, die mich unterstützt haben, aber die Wende kam, als ich jemanden fand, der an mich geglaubt hat. Und er hat mir beigebracht, an mich selbst zu glauben. Das ist das, was ihr tun müsst. Daran glauben, dass ihr es schaffen könnt.“
Er ging zur anderen Seite der Bühne und schaute die Kinder dort an. „Im Lexikon wird ein Mentor als Vertrauensperson, als Coach oder als Führer
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