Wer hat Angst vorm starken Mann? - Mallery, S: Wer hat Angst vorm starken Mann?
euch an den Händen! Lasst den anderen auf keinen Fall los, dann wird alles gut. Achtet nur darauf, dass ihr zusammenbleibt.“
Mrs Miller ging in den Flur, und die Kinder folgten ihr. Raoul wartete, um sicherzugehen, dass alle draußen waren. Ein kleiner Junge schien zu zögern.
„Es ist okay“, sagte Raoul betont ruhig. Er wollte nach der Hand des Jungen greifen, doch das Kind zuckte zurück, so als hätte es Angst, geschlagen zu werden. Noch ehe Raoul etwas sagen konnte, flitzte der Kleine dann – ein Rotschopf mit Sommersprossen – schnell an ihm vorbei nach draußen.
Auch Raoul eilte in den Flur. Der Rauchgestank war stärker geworden. Mehrere Kinder weinten. Ein paar standen mittenin der Eingangshalle und hielten sich die Ohren zu. Die Sirene heulte unablässig, während die Lehrerinnen ihren Schülern zuriefen, dass sie ihnen nach draußen folgen sollten.
„Komm“, sagte er und nahm ein kleines Mädchen auf den Arm. „Lass uns nach draußen gehen.“
„Ich hab Angst“, sagte sie.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Bei mir bist du sicher.“
Ein anderer kleiner Junge griff nach seinem Arm. Tränen rannen ihm übers Gesicht. „Es ist viel zu laut.“
„Dann lass uns schnell rausgehen, da ist es leiser.“
Er eilte den Flur entlang und sammelte weitere Kinder ein. Lehrerinnen rannten hin und her, zählten die Kinder, überprüften die Klassenräume, um sicherzustellen, dass niemand vergessen wurde.
Als Raoul mit seiner kleinen Schar den Haupteingang erreicht hatte, liefen die Kinder schnell davon. Er stellte das Mädchen, das er getragen hatte, wieder auf die Füße, und sie rannte zu ihrer Lehrerin. Dichte Rauchwolken stiegen inzwischen aus dem Gebäude auf und verdunkelten den strahlend blauen Himmel.
Immer mehr Schüler kamen aus der Schule gerannt. Namen wurden aufgerufen. Die Lehrerinnen sortierten die Gruppen nach Klassenstufen und Klassen. Raoul aber drehte sich um und ging wieder zurück in die Schule.
Jetzt konnte man den Rauch nicht nur riechen. Man konnte ihn sehen. Die Luft wurde immer stickiger, und die dunklen Rauchschwaden erschwerten das Atmen. Raoul eilte von Klassenraum zu Klassenraum, stieß die Türen auf, schaute unter die großen Lehrerpulte und ließ den Blick durch die Räume schweifen, um sich davon zu überzeugen, dass niemand vergessen worden war.
Er fand ein kleines Mädchen in einer Ecke des dritten Zimmers, das er betrat. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie hustete und schluchzte. Raoul hob sie hoch, drehte sich um und wäre fast mit einer Feuerwehrfrau zusammengestoßen.
„Ich nehme sie“, sagte die Frau, während sie ihn durch ihre Maske hindurch anschaute und die Arme nach dem Mädchen ausstreckte. „Machen Sie, dass Sie hier rauskommen. Das Gebäude ist fast siebzig Jahre alt. Weiß der Himmel, was für chemische Cocktails hier in der Luft herumschwirren.“
„Vielleicht sind hier noch mehr Kinder.“
„Ich weiß. Und je länger wir hier stehen und reden, desto größer ist die Gefahr, in der Sie schweben. Raus mit Ihnen!“
Er folgte der Feuerwehrfrau nach draußen. Erst dort merkte er, dass er hustete und keuchte. Er beugte sich vor und versuchte krampfhaft, Luft zu bekommen.
Als er wieder freier atmen konnte, richtete er sich auf. Es herrschte kontrolliertes Chaos. Drei Feuerwehrwagen standen vor der Schule. Die Kinder hockten zusammen auf dem Rasen, weit genug entfernt vom Schulgebäude. Rauch verbreitete sich in alle Richtungen.
Ein paar Leute schrien auf und deuteten zum Haus. Raoul folgte ihren Blicken und sah, wie Flammen durch das Dach am anderen Ende der Schule loderten.
Raoul wollte gerade wieder zum Gebäude laufen, als eine Feuerwehrfrau ihn am Arm packte.
„Denken Sie nicht mal dran“, warnte sie ihn. „Überlassen Sie das den Profis!“
Er nickte und fing wieder an zu husten.
Sie schüttelte den Kopf. „Sie sind wieder reingerannt, stimmt’s? Typisch Zivilist. Glaubt ihr, wir tragen die Masken, weil sie hübsch aussehen? Sanitäter!“ Sie brüllte das letzte Wort und deutete auf ihn.
„Mir geht’s gut“, brachte Raoul heraus, obwohl er noch immer kaum Luft bekam.
„Lassen Sie mich raten. Sie sind auch noch Arzt. Kooperieren Sie mit der netten Dame! Oder ich sage ihr, dass Sie einen Einlauf brauchen.“
2. KAPITEL
E s geht doch nichts über eine gemeinschaftlich erlebte Katastrophe, um einen von Selbstmitleid zu heilen, dachte Pia, als sie auf dem Rasen am hintersten Ende des Spielplatzes der Grundschule
Weitere Kostenlose Bücher