Wer Hat Angst Vorm Zweiten Mann
bereiten), inspiziert er verstohlen alle Körpersignale, um sich zu vergewissern, ob man die Wahrheit gesagt hat.
Der kritischste Moment beim Sex mit einem »zu Wohlerzogenen« ist kurz vor dem eigenen Höhepunkt. Dann nämlich bringt er es glatt fertig und verlangsamt wieder, um nochmals nachzufragen, ob er wirklich alles gut macht; oder aber er macht mit einer abwegigen Bewegung alles zunichte.
Als Jesco zurückkehrte, mixte er uns neue Drinks und setzte sich wieder neben mich. Er sah mich an, nippte an seinem Glas und sagte kein Wort. Mich verunsicherte seine kryptische Art, sie machte es mir schwer, ihn zu durchschauen.
Um das Schweigen zu brechen, suchte ich nach einem möglichst unverfänglichen Gesprächsstoff. Verkrampft lenkte ich das Thema auf die Gartenbepflanzung. Und so unterhielten wir uns – beziehungsweise eigentlich redete nur ich – so lange über Farne und Flechten, Gräser und Kräuter, dominante und nicht dominante Pflanzen, Schlingpflanzen und den Samenflug, bis mich Jescos belustigtes Gesicht zum Schweigen brachte.
»Die Spree ist ziemlich warm«, sagte er und erlöste mich aus dem peinlichen Moment.
Erleichtert, meinem Monolog über mitteleuropäische Vegetationsarten zu entkommen, folgte ich seiner indirekten Aufforderung, ans Flussufer zu gehen. Jesco kam hinterher.
Langsam watete ich durch das seichte Wasser nahe des Ufers und spürte Jesco dicht hinter. Irgendwann blieb ich stehen. Jesco umarmte mich von hinten. Ich schloss die Augen, als ich spürte, wie er unter mein Kleid tastete, und genoss das Wissen, dass ihn meine Nacktheit darunter erregte.
5
Von den folgenden drei Wochen werde ich noch sehnsuchtsvoll zehren, wenn ich mir mit neun zig Jahren in einem Seniorenheim meine Zeit mit Likörchen-Schlürfen vertreibe: Da meine Kinder mit Mark in die Ferien nach Italien gefahren waren, hatten Jesco und ich alle Zeit der Welt, um uns unserer Verliebtheit hinzugeben: Wir genossen die Wirkung von Sommercocktails in Beach Clubs am Spreeufer, machten Bootstouren auf der Mecklenburgischen Seenplatte, hingen stundenlang in Jescos Garten ab und liebten uns tage- und nächtelang. Ich fühlte mich wie in einem Dauer-Schampus-Rausch nach einer langen und zähen Zeit des Fastens.
Neben dem Sex mit Jesco, der mich aller Sinne beraubte, genoss ich es auch, mich mal wieder mit einem Mann über geistig anregende Themen weit abseits von Kinder- und Haushaltsfragen zu unterhalten. Da Jescos Bilderrahmenwerkstatt so gut lief, dass er sich nur noch am Rande darum kümmern musste, hatte er ausreichend Zeit, um seinen Interessen nachzugehen, allen voran der bildenden Kunst. So hatte er neben seiner Leidenschaft fürs Kunstsammeln, für die er auf die einschlägigen Messen reiste und Vernissagen und Ateliers besuchte, den Verein Rahmengeber e.V. gegründet, der mithilfe von Sponsorengeldern Nachwuchskünstlern Stipendien und Mentoren vermittelte.
Jescos Freigeist und seine Begeisterungsfähigkeit erinnerten mich an Mark, wie er war, als ich ihn kennenlernte. Doch im Gegensatz zu Jesco hatte Mark es nie geschafft, sich von den Erwartungen seiner Eltern zu emanzipieren. Die weichen und verletzlichen Anteile seiner Persönlichkeit kamen deshalb über die Jahre immer weniger und irgendwann gar nicht mehr zum Vorschein.
Mark stammte aus einer erzkonservativen und karrieristisch orientierten Akademikerfamilie, in der nur zwei Dinge zählten: Leistung und Erfolg. »Höher, schneller und der Beste von allen« – darauf wurde er zeit seiner Kindheit pro grammiert. Nicht zuletzt aus Sehnsucht nach der Liebe seiner Eltern fühlte er sich insbesondere dann, als er selbst Familienvater wurde, dazu auch verpflichtet.
Jesco hingegen war bei Eltern aufgewachsen, die die Handwerkerehre großschrieben. Nach seinem mittleren Schulabschluss absolvierte er eine Schreinerlehre, merkte aber schnell, dass ihn handwerkliches Arbeiten allein nicht ausfüllte. An der Abendschule holte er deshalb sein Abitur nach, danach studierte er BWL und Kunstgeschichte. Gleichzeitig machte er sich als Bilderrahmer selbstständig. Da seine Holzarbeiten hochwertig waren und er die Liebe seiner Klientel zur Kunst teilte, standen seine Auftraggeber bald Schlange. Und Jesco musste sich entscheiden, ob er mit seiner Firma expandieren sollte.
Er tat es nicht. Seine Werkstatt, der Garten am Spreeufer und seine kleine Wohnung in Berlin-Mitte genügten ihm. Anstatt noch mehr zu arbeiten, um noch erfolgreicher und noch wohlhabender zu werden,
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