Wer heimlich küsst, dem glaubt man nicht (German Edition)
zermartere, warum Tommy Sullivan wieder in der Stadt ist.
Die Sullivans sind in den Sommerferien zwischen der achten und der neunten Klasse nach Westchester gezogen (das war der Sommer, in dem ich zum ersten Mal Flaschendrehen spielte und Seth küsste). Sie haben zwar nie zugegeben, dass ihr plötzlicher Umzug etwas mit dem zu tun hatte, was Tommy getan hat, oder mit dem, was über ihn an der Mauer der Sporthalle der Eastport Middleschool steht, aber jeder in der Stadt ahnt, dass das der wahre Grund war. (Offiziell erzählte Mrs Sullivan meiner Mutter, die Maklerin ist und ihnen half, ihr Haus zu verkaufen, sie würden umziehen, damit ihr Mann nicht jeden Tag so weit zu seinem Arbeitsplatz nach Manhattan pendeln müsste.)
Warum ist Tommy nach so langer Zeit auf einmal wieder in der Stadt aufgetaucht? Okay, seine Großeltern wohnen nach wie vor hier. Ich sehe sie manchmal, wenn meine Eltern mit uns im Yachtclub essen gehen, wo sie Mitglied sind. (Allerdings nicht, weil wir eine Yacht hätten – mein Vater besitzt bloß ein kleines Motorboot zum Angeln, auf dem es nicht mal ein Klo gibt –, sondern weil man dort wichtige Kontakte knüpfen kann, wenn man im Immobiliengeschäft tätig ist.)
Ja, wahrscheinlich ist Tommy deswegen hier: Er besucht bloß seine Großeltern. Trotzdem komisch. Sie könnten doch auch zu ihm nach Westchester fahren, wenn sie ihn sehen wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so große Sehnsucht nach Eastport hat. Also bleibt die Frage: Was will er hier?
Und warum ist er ausgerechnet im Duckpin Lane Bowlingcenter gewesen, wo während der Sommerferien sämtliche Jungs der Stadt abhängen? Also eigentlich der allerletzte Ort der Welt, an dem sich jemand, der so verhasst ist wie Tommy Sullivan, freiwillig blicken lassen würde, oder?
»Katie?«
Ich hob den Blick und sah in Seths braune Augen, die mich anstrahlten. Er trug ein graues Trägershirt, das seine gebräunten und beeindruckend muskulösen Oberarme wunderbar zur Geltung brachte.
»Was machst du denn hier?«, fragte er erstaunt. »Du warst doch noch nie im Jugendzentrum.«
Das stimmte nicht ganz. Schließlich habe ich hier meinen ersten Fotokurs gemacht, der mich überhaupt erst auf die Idee brachte, Fotografin werden zu wollen. Wobei ich sagen muss, dass unser Kursleiter Mr Bird, der mürrische Besitzer vom Old Towne Photoshop, mir damals nicht gerade Mut gemacht hat.
Aber weil Seth sich nicht sonderlich dafür interessiert, dass ich fotografiere, sagte ich bloß: »Ich musste was mit Liam besprechen.« Dann hob ich ihm mein Gesicht entgegen, damit er mir einen Kuss geben konnte. Natürlich verriet ich ihm nicht, was ich mit Liam besprochen hatte. Im Laufe meiner langen und abwechslungsreichen Karriere als Lügnerin – die ungefähr zu der Zeit begann, als Tommy Sullivan aus Eastport wegzog –, habe ich gelernt, dass es manchmal besser ist, andere ein bisschen anzuschwindeln, als ihnen die Wahrheit zu sagen. Ganz besonders dann, wenn die Wahrheit ihnen wehtun könnte. Seth erträgt es noch nicht einmal, wenn jemand Tommys Namen auch nur laut ausspricht. Er wird dann immer ganz still und grüblerisch, obwohl ich den Eindruck habe, dass sein Bruder Jake im Grunde seines Herzens eigentlich ganz zufrieden damit ist, in der Baufirma seines Vater zu arbeiten. Aber okay, wahrscheinlich hätte es ihn noch glücklicher gemacht, wenn er ein Football-Sportstipendium an einer Uni bekommen hätte.
Deswegen habe ich mir im Laufe der Jahre angewöhnt, niemals vor Seth über Tommy zu reden.
»Ich habe den ganzen Vormittag versucht, dich anzurufen«, sagte Seth. »Hattest du dein Handy aus?«
Oops. Nach dem Sturz am Abend zuvor hatte ich es zwar geschafft, mein Handy wieder zusammenzubauen und aufzuladen, aber völlig vergessen, es wieder anzumachen. Ich zog es aus der Tasche, schaltete es ein und blickte kurz darauf auf meinen Startbildschirm (ein Foto von Seth, der mich über einen Teller frittierter Quahogs hinweg verliebt anschmachtet).
»Meine süße zerstreute Professorin«, sagte Seth. So nennt er mich manchmal, weil ich zwar Jahrgangsbeste bin, aber ständig irgendwelche Sachen vergesse, wie zum Beispiel mein Handy einzuschalten.
Prompt klingelte es ein paar Sekunden später.
»Hey, was war denn gestern Abend los?«, fragte Sidney ohne jede Einleitung. »Du warst plötzlich weg. Ich habe seitdem ungefähr eine Million Mal versucht, dich anzurufen, aber da ist immer nur deine Mailbox drangegangen.«
»Tut mir leid«,
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