Wer heimlich küsst, dem glaubt man nicht (German Edition)
zu schlucken.
Immer noch mit Todesverachtung im Blick kletterte ich über die Bordwand, und mein Magen schlug einen kleinen Salto, als ich den schwankenden Boden des Boots unter meinen Füßen spürte. Es dauert immer eine Weile, bis die Wirkung der Pillen einsetzt.
»Okay«, sagte ich, ließ meinen Rucksack und den Fahrradhelm fallen und nahm auf der gepolsterten Bank gegenüber von Tommy Platz, der immer noch auf dem Bug saß. Ich setzte eine sachliche und geschäftsmäßige Miene auf, denn letzten Endes handelte es sich hier um nichts anderes als um ein Geschäftsgespräch. Dann sah ich ihn abwartend an. Tommy Sullivan wollte etwas von mir, und ich würde mein Bestes tun, es (was auch immer es war) ihm zu geben. Schließlich wollte ich nicht, dass er meinem einen Freund etwas von der Existenz des anderen verriet. »Hier bin ich. Was willst du?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortete Tommy von oben herab (weil er höher saß als ich). »Ich will mich bloß mit dir unterhalten.«
»Bloß unterhalten?«, wiederholte ich skeptisch.
»Bloß unterhalten«, bestätigte er. »Früher haben wir uns oft unterhalten, erinnerst du dich?«
»Das ist lange her.« Ich stellte fest, dass es mir schwerfiel, seinen Blick offen zu erwidern, obwohl das ein wichtiger Bestandteil eines Geschäftsgesprächs ist. Das weiß ich daher, weil ich öfter mal in einer Fachzeitschrift für Immobilienmakler blättere, die meine Eltern abonniert haben. Und da stand mal drin, dass man seinen Geschäftspartnern immer in die Augen sehen soll.
Allerdings wurde in dem Artikel nicht erwähnt, wie man es schaffen soll, Blickkontakt mit jemandem zu halten, dessen Augen je nach Lichtverhältnissen die Farbe wechseln und der darüber hinaus so umwerfend gut aussieht, dass ein Mädchen bei seinem Anblick völlig vergisst, dass es einen Freund hat (geschweige denn zwei). Du bist die Freundin von Seth Turner, rief ich mir in Erinnerung. Die Freundin des begehrtesten und süßesten Jungen in ganz Eastport, in den du dich in der Middleschool unsterblich verliebt hast. Deshalb warst du das glücklichste Mädchen der Welt, als ihr in den Sommerferien vor dem Übertritt an die Highschool ein Paar wurdet. Ja, okay, mittlerweile hast du festgestellt, dass er nicht gerade der prickelndste Gesprächspartner ist, den man sich vorstellen kann, aber deswegen würdest du niemals mit ihm Schluss machen. Was würden die Leute denn dann von dir denken? Schlimm genug, dass du ihn mit Eric Fluteley betrügst!
Allerdings fiel es mir sehr schwer, mich daran zu erinnern, dass ich bereits vergeben bin. Denn Tommys Gesichtszüge sahen im Mondlicht noch männlicher und geheimnisvoller aus als nachmittags am Strand oder später im Restaurant, und das Plätschern der Wellen gegen die Bordwand sorgte für eine gefährlich romantische Stimmung.
Gott, was ist nur los mit mir? Ich bin ja schlimmer als Ado Annie aus dem Musical »Oklahoma!«, dieses liederliche Mädchen, das von jedem männlichen Wesen, das ihr über den Weg läuft, so hingerissen ist, dass sie nicht Nein sagen kann.
Obwohl … nein, ganz so schlimm wie Ado Annie bin ich dann doch nicht, weil ich ja nicht mit irgendwelchen Jungs schlafe, ich küsse sie nur. Mein Gott, hat Tommy schöne Lippen …
»Liam hat mir erzählt, dass du bei der Wahl zur Quahog-Prinzessin mitmachst«, unterbrach Tommy meine Überlegungen.
Die Wahl zur Quahog-Prinzessin – sehr gutes Thema!, dachte ich. Konzentrier dich nur darauf. Hauptsache, du starrst nicht weiter auf Tommy Sullivans Lippen.
»Ja«, sagte ich. »Das stimmt.«
Plötzlich fiel mir siedend heiß ein, dass Tommy und ich uns früher immer über die Quahog-Prinzessinnen lustig gemacht haben, weil wir sie so albern fanden. Also fügte ich hastig hinzu: »Aber nur weil man Geld dafür bekommt. Die Siegerin kriegt immerhin 1500 Dollar. Prinzessin werde ich zwar sicher nicht, weil das schon Sidney wird, aber ich habe gute Chancen auf den zweiten Platz. Außer uns bewerben sich nämlich nur noch Morgan Castle – und du weißt ja, dass sie so schüchtern ist, dass sie kein Wort herausbringt – und Jenna Hicks, die …« Ich stockte, weil ich nichts Schlechtes über Jenna sagen wollte.
Aber ich hätte mir gar keine Sorgen machen müssen, denn Tommy beendete den Satz für mich. Es war schon früher oft so gewesen, dass er genau das aussprach, was ich dachte, mich aber nicht zu sagen traute, weil ich Angst hatte, mich dann so unbeliebt zu machen, wie Tommy es
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