Wer im Trueben fischt
dachte Emma. Reflexartig bot sie ihren Arm zur Stütze an. Martha warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Sehr gerade ging sie zu dem bodentiefen Fenster und sah hinaus. Es dämmerte schon. Martha formte mit den Fingern am Fenster sacht die Konturen eines weit entfernten Hochhauses nach. Manche Vierecke waren hell erleuchtet, andere schwarz. Von hier oben sieht es aus wie eine kaputte Lichterkette, dachte Emma. Ohne sich zu ihr umzudrehen sagte Martha:
»Heinrich Bohmann feiert am Sonntag seinen hundertsten Geburtstag. Ein Riesenereignis. Als Journalistin werden Sie kaum Schwierigkeiten haben, sich Zutritt zu verschaffen.«
Emma stellte sich zu ihr ans Fenster.
»Werden Sie dabei sein?«
Ohne zu antworten, zeigte Martha Steiner mit ihrem schmalen Finger zum Potsdamer Platz. Die Hochhäuser leuchteten in der Ferne.
»Sehen Sie das spitz zulaufende Haus? Ganz rechts, das aus Glas?«
Emma trat noch einen Schritt näher an Martha heran. Sie atmete einen leichten Blumenduft ein und noch etwas anderes. Alkohol?
»Dort sitzt die Firma von Bohmann.«
Jetzt war Emma abgelenkt. Sie starrte nach draußen. Der gläserne Block ragte aus der Straße hinaus. Die spitz zulaufende Ecke schien genau auf sie zu zeigen.
»Wer führt die Firma?«
»Sein Sohn. Alexander.«
Martha schlug mit den Fingerspitzen leicht gegen die Scheibe. Es war eine abfällige Geste.
»Hat nicht das Format vom Vater. Keine Visionen.«
Emma schaute sich im Wohnzimmer um. Kein Foto war zu sehen, auch nicht von ihr oder ihrem verstorbenen Ehemann.
»Haben Sie eigentlich Kinder?«
Kein Ton. Als sie sich wieder Martha zuwandte, erschrak sie. Martha stand an derselben Stelle wie vorhin. Die Lippen ein Strich, die Augen schleuderten scharfe Blicke.
»Ich habe keine und auch nie welche gewollt.«
Mit einem Ruck drehte sich Martha Steiner vom Fenster weg. Sie ging durch den Raum und stieß dabei mit ihrem Stock immer wieder vor sich in die Luft. Emma war erschrocken über die Wut, die sie da sah.
»Muss ich mich dafür immer noch rechtfertigen?«
»Frau Steiner, alles in Ordnung, ich habe doch nur gefragt, kein Problem, wenn Sie …«
»Bitte gehen Sie jetzt.«
An der Tür holte die alte Frau Luft. Sie tippte sich leicht auf die Lippen und wischte ein wenig Spucke weg. Emma hätte heulen können vor Mitleid und vor Wut über die eigene Indiskretion. Martha Steiner sah so einsam aus, wie sie da stand. Als Emma einen Schritt auf sie zumachte, drehte sie sich um.
Sie war schon an der Tür zur Küche, als Emma sie einholte. Ohne nachzudenken legte sie die Hand auf Marthas knochige Finger, die bereits die Türklinke umklammerten.
»Wenn ich etwas für Sie tun kann, rufen Sie mich an. Ich kann auch für Sie einkaufen oder mit Ihnen spazieren gehen.«
Martha starrte auf Emmas Hand, die noch immer auf ihren Fingern lag. Langsam zog Emma sie zurück. Die alte Dame richtete sich auf und hob ihr Kinn. Ihre Worte kamen wie Ohrfeigen.
»Wenn Sie Gesellschaft suchen, gehen Sie mit Ihren Kollegen kegeln. Verschonen Sie mich mit Ihrer Mildtätigkeit.«
Emma stand wie vom Donner gerührt vor ihr. Martha verschwand durch die Tür, ohne sie noch einmal anzusehen. Wie ein geschlagener Hund ging Emma auf den Ausgang zu. Sie nahm ihre Schuhe. Öffnete die Wohnungstür. Sie horchte noch einen Augenblick. Kein Laut drang zu ihr. Leise zog sie die Tür von außen zu, zog die Schuhe wieder an und lief die Treppen runter.
Auf dem Weg durch den Tiergarten kamen ihr die Tränen. Vom Fahrtwind, dachte sie und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
A uf der Straße des 17. Juni herrschte Betrieb. Immer wieder musste sie hart in die Bremse gehen, weil Bustouristen über den Weg liefen oder Autos rechts abbogen und ihr die Vorfahrt nahmen. Schließlich stieg sie ab und schob ihr Rad durch die Menge. Am Brandenburger Tor schaute sie nach rechts zum Potsdamer Platz. Im Glashochhaus waren vereinzelte Lichter an. Die ganze oberste Etage war hell erleuchtet.
»Aua!«
»Oh!«
Ein Mann vor ihr rieb sich die Waden. Emma war ihm von hinten an die Beine gefahren. Er war dabei gewesen, seine Familie zu fotografieren. Sie standen ein paar Meter weiter vor dem Tor. Die Frau war erschrocken, lächelte unsicher. Ein kleiner Junge schaute in eine andere Richtung.
»Ist ja nichts passiert, nicht wahr?«
Der Mann hatte einen schwäbischen Akzent. Er lächelte Emma jetzt auch an. Sie sagte immer noch nichts, nickte nur und schob ihr Rad an den Leuten vorbei. Sie spürte ihre
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