Wer im Trueben fischt
zurück.
Es gab eine Zeit, da hätte Schulenburg diese Männer zu seinen Freunden gezählt. Die meisten von ihnen kannte er seit vielen Jahren. Sie hielten sich noch immer für das Rückgrat der Redaktionen, dabei würde der Sender sie auf der Stelle feuern, wenn er könnte.
Der Betrieb lief längst an ihnen vorbei. In den 80er Jahren stellte der Privatfunk die Medienwelt auf den Kopf, und in den 90er Jahren setzte die digitale Revolution sie neu zusammen. Renommierte Journalisten sahen sich einem veränderten Beruf gegenüber, der neue Fähigkeiten verlangte. Viele wollten oder konnten nicht mithalten.
Den Sender stellte das vor ein Problem. Die Mitarbeiter waren festangestellt, mit Zulagen und Pensionsansprüchen, die sie in den 70er Jahren erstritten hatten und die ihnen auch heute noch jedes Arbeitsgericht bestätigen würde. Deshalb ließ die Intendanz sie dort, wo sie waren, und stellte ihnen ein Heer von freien Mitarbeitern zur Seite, die Stück für Stück ihre Arbeit übernahmen.
Und da sie weiterhin zu den Leuten mit einem Topgehalt im Sender gehörten, konnten sie sich einreden, ihre Erfahrung sei noch immer das Gut, das den Betrieb im Innersten zusammenhalte.
Schulenburg war diese Auffassung von Anfang an fremd gewesen. Er lebte so sehr im tagesaktuellen Journalismus, dass es ihm absurd erschien, vergangene Lorbeeren anzuführen. In ihrem Geschäft zählte nur das Heute. Und das bestand für ihn aus GfK-Marktanalysen, Sendeuhren und Werbesekunden. Als er die Leitung übernahm, waren es seine alten Freunde, die herumerzählten, er habe den Job wegen seiner investigativen Beiträge von früher bekommen.
Solange er einer von ihnen war, diente seine Beförderung auch ihrem Ruhm.
Während sie seine Ernennung mit altem Whiskey feierten, überlegte er, wie er sie aus dem laufenden Betrieb entfernen konnte. Manchem bot er eine lukrative Frühpensionierung an. Aber nur wenige nahmen es an. Die meisten saßen weiter im Sender die Zeit ab. Ohne wirkliche Aufgaben oder Verantwortungen pendelten sie zwischen den Besprechungen und ihren Büros hin und her und vertrieben sich die Stunden mit der Lektüre ihrer Lieblingszeitungen im Archiv.
Manfred Schneider war einer der wenigen, auf die das nicht zutraf. Er wusste, worauf es ankam, er war kompetent und erfahren. Mit fünfundfünfzig gehörte er auch noch nicht zu den Altlasten. Trotzdem hatte Schulenburg bemerkt, dass er nachließ. Meldungen waren unter seiner Leitung übersehen, Ereignisse in ihrer Bedeutung unterschätzt worden. Schulenburg war aber noch nicht bereit, auf Schneider zu verzichten. Er hatte einfach niemanden, der seine Stellung einnehmen konnte. Er brauchte Schneider. Deshalb hatte er sich bereiterklärt, mit der neuen Mitarbeiterin noch einmal zu reden. Die schwierige Situation, in die sie geraten war, hatte sie sich aber selbst zuzuschreiben. Er würde sie nicht in Schutz nehmen.
Als er sich umdrehte, stand seine Sekretärin in der Tür. Er fühlte sich beobachtet und ärgerte sich darüber. Sie sagte:
»Der Nachruf aus dem Stehsatz ist jetzt da. Ernst kommt rein und schreibt das Ende neu.«
Schulenburg ging zum Schreibtisch und griff nach seinem Kopfhörer. Die Sekretärin drehte sich um, sagte noch über die Schulter:
»Schneider will was für die Nachrichten rausschneiden.«
»Ich sag ihm Bescheid.«
S chulenburgs Büro lag im vierten Stock, direkt über der Redaktion. Wenn sein Name fiel, schauten die Kollegen nach oben, als redeten sie vom lieben Gott. Emma war noch nicht hier gewesen. Die Sekretärin winkte sie durch, ohne ihr Telefongespräch zu unterbrechen.
Schulenburg hatte den Kopfhörer auf und hörte einen Beitrag ab. Emma setzte sich auf den Stuhl vor den Schreibtisch und wartete. Im Büro war kein einziges Stück Papier zu sehen. An dem übergroßen Monitor hing ein Computer mit den verschiedenen digitalen Abspielgeräten, DAT und MiniDisc, Datenträger, die kurz als neue Generation im Hörfunksystem eingeführt und schon bald von den digitalen Tracks abgelöst worden waren. Unsummen hatten die Sender damals ausgegeben und alle paar Jahre ein komplett neues System installiert, um das digitale Zeitalter nicht zu verschlafen und die Konkurrenz in Sachen Tonbrillanz abzuhängen.
Auch auf dem Konferenztisch lagen weder Stift noch Block, dafür ein schmales Notebook, das im Standby-Modus die Buchstaben des Sender-Logos in tausend Einzelteile explodieren und wieder entstehen ließ.
Schulenburg nahm den Kopfhörer herunter.
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