Wer im Trueben fischt
Kantine.
Noch waren die meisten Tische leer. Die Küche rüstete sich für den Ansturm, es roch nach Fisch und Pommes. Emma saß allein an einem Tisch am Fenster. Sie wandte den Kopf und schaute ihm entgegen.
»Du hättest mich warnen können.«
Schneider setzte sich ihr gegenüber. Er dachte einen Moment nach, dann nickte er.
»Tut mir leid. Die Sache mit Bohmann kam mir dazwischen.«
Emma sah wieder aus dem Fenster. Sie hat viel von Helene, dachte Schneider.
»Dein Vater hat die erste Zeit bei mir gewohnt. Als er von euch wegging. Wusstest du das?«
Sie sah ihn erstaunt an, presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Ich hab ihm gesagt, er ist ein Idiot. Aber er wollte nicht zurückgehen.«
»Er wollte Ida nicht.«
Schneider schob das Blumengesteck zwischen ihnen zur Seite. Warum stellte man Blumen aus Plastik auf die Tische, fragte er sich. Wem soll das nützen?
»Du warst 17 und schon fast erwachsen. Er wollte mit Helene um die Welt segeln. Unabhängig sein. Helene wollte noch ein Kind. Sie hat ihm nichts erzählt, bis es zu spät war.«
»Zu spät, um abzutreiben, meinst du das?«
Ihre Stimme klang hart. Schneider sah sie an, sie war wütend. Sie sagte:
»Wir reden hier von Ida!«
»Damals war sie noch nicht Ida. Helene wusste, dass sie ein behindertes Kind kriegen würde. Und sie hat die Entscheidung ganz allein getroffen.«
Emma sah wieder aus dem Fenster. Sie kämpfte um ihre Fassung. Leise sagte sie:
»Wie kann man Ida nicht wollen?«
»Ich will ihn nicht verteidigen, Emma. Er hat euch verlassen, und das war das Dümmste, was er je getan hat. Ich will dir damit nur klarmachen, dass die Dinge nicht immer so einfach sind, wie manche Menschen sich das wünschen.«
Emma schaute noch immer starr aus dem Fenster. Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter. Eine Gruppe von Mitarbeitern betrat die Kantine und stellte sich plaudernd an die Essensausgabe. Schneider beugte sich vor und dämpfte seine Stimme.
»Carl Josef Rosenberg war vielleicht kein Unschuldslamm, genauso wenig wie dieses Mädchen, Jenni. Sie war etwas frühreif, oder? Ein kleines Flittchen?«
Emmas Kopf fuhr herum.
»So hab ich sie nie genannt.«
»Aber das darf sie sein. Sie kann so viel Scheiße bauen wie sie will, das gibt noch keinem das Recht, ihr weh zu tun.«
Emma sah Schneider an. Er beugte sich noch weiter vor.
»Der alte Rosenberg war ein Opfer, Emma. Genau wie deine Jenni. Ihnen wurde Unrecht getan. Das ist das Einzige, das du im Blick behalten musst.«
Schneider lehnte sich wieder zurück. Ein Mann ging mit einem vollen Tablett an ihnen vorbei und grüßte. Schneider reagierte nicht. Er sagte leise:
»Wenn du weiter Beiträge machen willst, dann kriegen wir das hin. Du kannst eine Weile anonym zuarbeiten. Es gibt immer Jubiläen.«
Emma schaute wieder aus dem Fenster. Schneider beobachtete sie.
»Wenn du dranbleiben willst, dann kann ich dir nichts versprechen. Ich kann dir nur sagen, dass Schulenburg der letzte Mensch auf Erden ist, der eine gute Geschichte fallenlässt.«
Er nickte ihr noch einmal zu, dann stand er auf und ging.
A ls sich die Kantine füllte, verließ auch Emma den Raum. Ihre Sachen lagen im Redaktionsraum, aber sie konnte sich nicht überwinden, sie zu holen. Als sie am Pförtner vorbei auf die Rolltreppe stieg, schallten ihr die Werbeversprechen des Einkaufszentrums entgegen. Sie wollte sich am liebsten die Ohren zuhalten.
Zweimal lief sie um den Lietzensee. Sie dachte an Jenni. Das erste Mal hatte sie sie zwei Wochen nach der Vergewaltigung getroffen. Sie hatte sich das blonde Haar abgeschnitten und schwarz gefärbt. Jeder Schritt war ein Stampfen, und wenn sie antwortete, schrie sie fast. Sie war voll Wut, und Emma war froh darüber. Wer wütend ist, der hat die Kraft, sich zu wehren. Irgendwann zwischen den Zeugenaussagen seiner Kumpels und dem Stirnrunzeln des Richters war ihre Wut kleiner geworden und hatte der Scham Platz gemacht. Und sie, Emma, hatte es nicht gemerkt.
Der Wind frischte auf und fegte die braunrotgelben Blätter der mächtigen Kastanien herunter. Wenn es weiter so kalt blieb, waren die Bäume bald kahl. Sollte sie den Winter hier bleiben und Jubiläumssendungen machen? Sie dachte an ihre letzten Wochen in Bremen, als sie sich im Archiv verkrochen hatte. Mittags saß sie allein in der Kantine. Sollte sie das noch einmal durchmachen? Sie hatte nichts gewonnen, sondern nur verloren. Hatte ihre Familie aufgegeben.
Eine Frau mit einem Kinderwagen kam
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