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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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gewusst, dass sie die letzte ihrer Art war. So etwas wusste man einfach. Egal ob Mensch oder Tier. Solche Dinge wurden einem von dünner Luft zugeflüstert, direkt ins Herz hinein. Es war derblanke Hohn – ausgerechnet die Wandertaube, eine besonders soziale Art, musste auf diese Weise von der Erdoberfläche verschwinden.
    Als Lewadski schon fast alle Milchzähne im Mund hatte, schoss sich sein arbeitslos gewordener Vater unter einer Fichte eine Kugel in den Kopf. Der alte Graf schickte der Witwe mit der Kriegspost aus Wien ein Telegramm. GNÄDIGE FRAU STP MEINE GEDANKEN SIND BEI IHNEN STP SCHADE UM IHREN MANN STP SEIEN SIE TAPFER STP
    Als Lewadski einen Vogel auf vier Beinen malen konnte, dankte der Zar in Russland ab, sein Leibkoch vergiftete sich, die provisorische Regierung wurde gebildet, Lenin rief große Worte in die frostige Luft vor zehntausend Paaren versoffener Bauernaugen, Gutsherren wurden enteignet und Kirchen geplündert zum Wohle des Volkes.
    Als Lewadskis letzter Milchzahn draußen war, stürzten die Bolschewiki die provisorische Regierung. Kleinrussland rief seine Unabhängigkeit von Großrussland aus. »Warum hast du nur mich allein zur Welt gebracht?«, fragte Lewadski seine Mutter, die zu ihm sagte: »Damit du etwas Besonderes wirst, Söhnchen!«
    Doch in Wirklichkeit war es das verfrühte Verschwinden seines Vaters von der Waldbühne, das Lewadski etwas Besonderes werden ließ. »Bis zum Schluss liebte er den Wald!«, schwärmte Lewadskis Mutter. »Der Wald war sein Arbeitskabinett, das er betrat und verließ nach Belieben, stundenlang durchschritt, in dem er schießen und auf den Boden spucken durfte. In der Stadt wäre er eingegangen«, wiederholte sie immer wieder und putzte sich weinerlich die Nase.
    Unter allen Tieren liebte Lewadskis Vater die Vögel über die Maßen. Seine junge Witwe erbte nach seinem Tod einekaum zu überblickende Menge an Mappen mit Vogelzeichnungen. Der Verstorbene hatte Stockenten, Tauchhühner und Zwergtaucher gezeichnet, Bachstelzen, Grünspechte und Türkentauben, Bussarde, Falken, Sperber, Habichte und Milane, Baumpieper, Wiesenpieper und Brachpieper, außerdem Misteldrosseln, Rotdrosseln, Singdrosseln und Wacholderdrosseln. Auch den Silberreiher, den Nachtreiher und den Seidenreiher hatte er nicht verschmäht.
    Bevor er sie zeichnete, schoss Lewadskis Vater seine Modelle mit feinem Schrot. Er verwendete winzige Kügelchen, um die Körper möglichst wenig zu beschädigen. Dann fixierte er die Kadaver in natürlicher oder pathetischer Position mit Draht und zeichnete sie. Ein Storch verschlingt einen Frosch bei Sonnenuntergang war für das gemeine Volk. Ein Storch schaut mit dem auf revolutionäre Art in die Stirn gekämmten Haar in den Himmel und wird von einem Blitz in den Schnabel getroffen – das war für Lewadskis Vater allein, zu seinem eigenen ästhetischen Vergnügen. Lewadskis Mutter nannte ihren Mann deshalb einen Neoromantiker. »Mit seiner Ablehnung des Natürlichen bot er allen die Stirn«, seufzte sie, »selbst der zeichnerischen Tradition des 18. Jahrhunderts spuckte er ins Gesicht. Dein Vater«, sagte sie zu Lewadski und wischte sich eine Träne aus ihrem Witwenauge, »schaute weit zurück zu den Ursprüngen der Tierverehrung, voller Hoffnung auf deren Wiedergeburt. Schau!« Seine Mutter griff feierlich nach einer der Mappen und zog eine Zeichnung heraus.
    »Ein Storch«, kommentierte Lewadski sofort.
    »Ein Storch für dich, ein Storch für mich, ein Storch für sich. Aber für deinen Vater«, sie wippte mit ihrem Finger, »war es ein Storch, der von einem Blitz nicht getroffen, sondern geküsst wird, ja geküsst. Lichtdurchflutet erhebt sich der Glückliche über die Welt, um ein wundervolles Lied zu klappern – ein Vertreter der Familie der Schreitvögel und ein Engel zugleich. Beides schloss sich für deinen Vater nicht aus, leicht sei ihm die Erde ...«
    Mein Vater war kein schlechter Mann, dachte Lewadski. Sein Glaube daran wuchs, je schärfer sein ornithologischer Blick wurde. Als er anfing, die gemalten Vögel seines Vaters in freier Natur zu erkennen, hätte er jedem ins Gesicht gespuckt, der schlecht über den Toten gesprochen hätte. Die Vogelzeichnungen betrachtete Lewadski im Bewusstsein, dass sich hinter jedem Vogelauge das Gesicht seines Vaters versteckte, das Gesicht eines lebenslustigen Mannes, der er ohne Zweifel gewesen war. »Wer Vögel beobachtet, kennt die Daseinsfreude«, schwor Lewadskis Mutter, ihr leicht vergilbtes

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