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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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ihr dösten Frauen mit grauen Hochfrisuren. Unter ihr wogende Wellen gebildeten Bürgertums mit gesteiften Krägen von einem Weiß, das im gedämpften Licht jeglicher Kritik standhielt.
    »Früher wurden hier Champagnerflaschen entkorkt«, seufzte eine der Großtanten, »mir fehlt das Knallen.« Ihr Atem bohrte sich als saure Gurke in Lewadskis linkes Nasenloch.
    »Umso besser«, flüsterte ihre Schwester, »so lässt sich die Musik viel intensiver genießen.« Und eine zweite saure Gurke verstopfte Lewadskis rechtes Nasenloch. Wie selig nieste er im Musikverein! Wie selig waren der Schmerz des unterdrückten Niesens und die darauffolgende Gänsehaut!
    Im Musikverein hörte Lewadski zum ersten Mal auch die widersprüchlichen Namen, die ihr die Musikfreunde gaben. Sie benannten die Musik hinter vorgehaltener Hand, zueinander geneigt oder aufrecht sitzend mit gläsernen Wahnsinnsaugen Richtung Orchester.
    »Göttliches Gedudel!«
    »Grauenhaftes Gewinsel.«
    »Schtt ...«
    »Pikantes Gemetzel der Melodien.«
    »Abstoßende Harmonik, aber nicht uninteressant.«
    »Sehr aufgedunsen. Trotzdem schöne Instrumentaleffekte.«
    »Zum Verrecken langweilig – der ewig gleiche Rhythmus.«
    »Ruhe!«
    »Entzückende Sauerei!«
    Auch unsichtbare Vorgänge wurden registriert.
    »Die Kontrabässe schleppen sich ziemlich schwerfällig.«
    »Die Geigen schleichen.«
    »Die schmetternden Trompeten verdoppeln die Geigen.«
    Die Musik selbst wurde zu Handlungen ermutigt.
    »Jetzt aber hopp hopp hopp!«
    »Stich und zieh! Stich und zieh!«
    »Mach schon ehhhh!«
    Und viel Zweideutiges, ausgestoßen im Zustand der Euphorie.
    »Eine Donnerkulisse nach der anderen, was für ein Labsal!«
    »Die Extravaganzen dieses Genius überschreiten alle Sphären.«
    »Zuckerwasser auf mein Haupt, Lotte, ich fliege!«
    Es war klar: Nur ein Freund war in der Lage, so über die Musik zu sprechen, jemand, der sie wirklich kannte. Von lauter Musikfreunden war Lewadski umgeben. Welke Damen mit glitzernden Ohrgehängen gehörten zu diesem Freundeskreis, Jünglinge mit roten Wangen und langen schmachtenden Fingern zählten dazu. Schluchzende Stubenmädchen in farblosen Kleidern waren mit der Musik befreundet, selbst Geistliche rollten ihre Augen zur hohlen Kassettendecke, dankbar für die Musik auf Erden und die Gabe des Gehörs.
    Die Eltern der Musik schienen die Musiker auf der Bühne zusein. Zur ewigen Reproduktion verdammt, waren sie in Lewadskis Kinderaugen nichts als seelenlose Puppen.
    Welche Rolle der Dirigent ausführte, war nicht schwer zu erraten: Er war das Tor, durch das der selige Komponist seine Drachenzunge herausstreckte. Solange eine Symphonie, eine Sonate oder ein Klavierkonzert dauerten, schien der Dirigent seinen Körper und seine Persönlichkeit aufzugeben. Sein entkerntes Gehäuse ließ etwas Besseres als ihn selbst in sich walten und triumphieren. Doch bei näherer Betrachtung war es anders. Der Dirigent steckte sehr wohl in seinem Körper. Der Grund, warum er wie besessen vor sich hin zappelte, war erschreckend profan: weil er hin- und hergerissen war – er sollte sich beherrschen und zugleich sich selbst vergessen. Er sollte dem Plan des Komponisten folgen, aber auch seinen eigenen Vorstellungen, seinem launenhaften Temperament und dem Augenblick. Wem gerecht werden? Dem Komponisten, dem Publikum oder sich selbst? Wie dabei nicht verrückt werden?
    »Ein Orchesterdirektor«, belehrte eine der Großtanten Lewadski, »ist ein für das richtige Maß zuständiger Bürokrat, nichts weiter.«
    »Eine intelligente Windmühle, die nicht vom Fleck kommt, die nie fliegen wird«, ergänzte ihre Schwester.
    Voller Mitleid schaute Lewadski auf den Dirigenten, ein sterbliches Wesen, das jederzeit Gefahr lief, im Eifer des Gefechts auf seinem Dirigentenpodest auszurutschen und zu stürzen und die unsterbliche Musik mit dieser Peinlichkeit zu besudeln. Der Pianist, sein Bruder im Leiden, hatte es insofern besser, als er im Sitzen nicht straucheln konnte.
    Wo denn der Komponist sei, wollte Lewadski von den Großtanten wissen. »Überall, mein Kind, überall!« Lewadski schaute und staunte. Meistens saß der Komponist als lockigerSeraphenkopf auf der Schulter Gottes und grinste verschämt über seine viel umjubelte Unzulänglichkeit.
    »Es wird bunt«, näselten die Schwestern, den trüben Blick auf die ersten Sitzreihen im Saal gerichtet. Sie hatten gut reden von der hohen Warte der billigen Plätze am Orgelbalkon aus, denn sie kannten deren

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