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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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Gespräch über Vögel und Menschen in Lewadski wie eine Kastanie in einem spiegelnden Teich. Und als er zum ersten Mal in einem Zug saß, zwischen wimmernden Soldaten mit verbundenen Armen, Beinen und Köpfen, war das Bild des Witwerichs hinter verschlossener Haustür nicht einmal mehr ein Wasserring auf dem Teich seiner Erinnerung.
    Hinter den Tanten seiner Mutter stand der Mief ihrer Wohnung als stummer Dritter. Lewadski begrüßte alle drei an der Türschwelle mit einem Diener und trat stolpernd ein. »Hier werden wir wohnen«, verkündete Lewadskis Mutter mit feuchten Augen.
    Mehrmals in der Woche aß Lewadski Torte mit seinen Großtanten im schönsten Hotel von Wien. Er aß Torte, bis er zwanzig Zentimeter gewachsen war, er aß sie drei Jahre lang. Nach der Torte verschlang Lewadski den goldenen Klang der Musik. Im Goldenen Saal des Musikvereins, wenige Schritte vom Hotel entfernt, kam er in einen Genuss, der noch süßer war als Schokoladentorte.

IV
    Während Lewadskis Mutter den Kindern feiner Damen die Windeln wechselte und sie im Kinderwagen an der frischen Luft spazieren fuhr, schleppten Lewadskis Großtanten den unerwarteten Trost ihrer alten Tage in den Musikverein. Auf einem dünn gepolsterten Stuhl mit seinen kurzen Beinen baumelnd, lauschte er an langen Abenden symphonischen Werken, Konzerten für Klavier und Orchester, für Klavier solo, für Klavier vierhändig und für zwei Klaviere, er lauschte weltlichen und geistlichen Chorwerken mit und ohne Orchester und lernte die Vorteile der billigsten Balkonplätze direkt über dem Orchester schätzen. Die hohle Kassettendecke bildete eine Art Resonanzraum, der die Musik zu verstärken, zu bündeln und auf niemand anderen als Lewadski herabzuschleudern schien.
    »Wir sitzen im Bauch eines architektonischen Meisterwerks«,flüsterten Lewadski die Großtanten mit säuerlichem Atem zu. Feierlich, denn feierlich waren der Goldton des Saals, das blaue Deckengemälde mit Apollons neun Musen, das lässige Weiß der Plastiken über den Balkontüren. Feierlich waren die Bewegungen der Geiger, wenn sie sich ihre Schweißperlen abtupften, feierlich waren die eingestickten Initialen auf ihren Kinntüchern. Ausgesprochen feierlich waren die verweinten Gesichter der Musikfreunde, die Lewadski von seinem billigen Platz aus im dezenten Kristalllüsterlicht schimmern sah: all die roten Nasen, die in diesem feierlichen Rahmen eine prophetische Würde bekamen.
    »Du wirst es eines Tages verstehen«, versprach ihm der säuerliche Atem der Großtanten. Jetzt schon verstand Lewadski, dass es sich bei der Musik um Zauberei handeln musste – wie ließe es sich sonst erklären, dass die beiden Schwestern weniger hässlich wirkten, wenn die Musik einsetzte? Sogar in der Pause war es eine milde, mit Goldstaub zugekleisterte Hässlichkeit, die sie ausstrahlten. Die Musik selbst war ein Duft! Sie roch nach dem Puder der sich über die Balustrade beugenden Dekolletés seiner Tanten, nach poliertem Messingblech und dem Schweiß der Musiker.
    Während ein scheppernder Rachmaninow über die Bühne fegte und sich die Musikkenner mit verschwommenem Blick ihre Nasen putzten, sprang Lewadski über sonnendurchflutete Blumenwiesen, umarmte tausendjährige Bäume, schnellte flink ihre harzigen Stämme empor und versank in Ozeanen voller Fische. Er konnte nicht wissen, dass sich die Musik in seinem Kopf eines Tages auf einen dreischichtigen Geruch reduzieren würde. Auf den Geruch von Puder, Messing und Schweiß.
    Da saß Lewadski an eine kühle Säule gelehnt. Regte ihn die Musik zu sehr auf, schlug er mit seinem Kopf ganz sacht gegen die Säule. Neben ihm saß meistens eine Dame mit Fernglas, die zwei Plätze beanspruchte. Durch ihr Fernglas schaute sie auf die öligen Glatzen der Kontrabassisten und lächelte geheimnisvoll oder leckte ihre rotgeschminkten Lippen. In der Pause wog sie ihre beiden billigen Plätze mit einem Kaviarbrötchen auf. Wenn sie nach der Pause wieder ihr Fernglas auf die Kontrabassisten richtete, dunkelte ein Kaviarei in ihrem Lächeln. Gleich neben ihr schlummerte ein Greis hinter seinem perlmuttschimmernden Kneifer. An blechreichen Stellen fuhr er hoch und betastete seine Frackweste – er war hier. Er war. Er war er. Und wieder lockte der süße Schlummer – der Greis verfiel der Träumerei bis zur nächsten Blechbläserattacke. Gegenüber Lewadski auf der anderen Seite des Saals schwankte ein mageres Fräulein mit einem Lorgnon in der Hand. Rechts und links von

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