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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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Taschentüchlein in der welkenden Hand zerknüllend.
    »Mein Vater war glücklich, er kannte die Daseinsfreude!«, rief der kleine Lewadski den Kindern im Dorf zu, wenn er glaubte, von einem mitleidigen Blick getroffen worden zu sein. Ihre Väter waren Bauern, Schmiede, Bäcker und Metzger, im schlimmsten Fall gefallen im Krieg, verkrüppelt oder vermisst. Diese Kinder waren zu bemitleiden, nicht er, denn sein Vater hatte die Daseinsfreude gekannt. Abends wurden sie von ihren Müttern ins Wirtshaus geschickt, um die Väter nach Hause zu holen, die dort tranken. Lewadski lauerte in der Nähe, an eine Mauer gelehnt. Er war mehr stolz als traurig, dass sein Vater nicht aus dem Wirtshaus herauswanken konnte. Er kannte die Daseinsfreude, rief er in Gedanken den Kindern mit ihren Vätern am Arm zu, oh ja, er kannte sie!
    »Eines Tages wirst auch du die Vögel kennen«, versprach Lewadskis Mutter. Eines Tages war es wirklich so. Lewadski kannte sie alle, und er wusste: Die Daseinsfreude hat mit der Kugel, die sich sein Vater in den Kopf geschossen hatte, nichtszu tun. Diese Daseinsfreude zaubert einen Raum für ein freies, von keinen Umständen abhängiges Glück mitten hinein ins menschliche Schicksal. Wie eine Luftblase schwebt dieser Raum in uns, und sein Inhalt, die Freude, spricht uns frei von allem, von unseren Sünden, unseren Fehlern, verzeiht selbst das traurigste Ende. Eines Tages kannte Lewadski die Vögel und wusste: Hat man sich erst einmal auf die Luftbewohner eingelassen, ist man zur Freude verdammt. Auch glücklich kann man sich eine Kugel in den Kopf schießen.
    Im August, kurz vor der schicksalsträchtigen Schlacht bei Amiens, war Lewadski in der Lage, sich selbstständig die Zähne mit Zahnpulver zu putzen. Die junge Witwe beschloss, das Försterhaus abzuschließen und mit einem Lazarettzug zurück nach Wien zu fahren. Lewadski schaute zu, wie sie mit einem Beil allen Hühnern und dem alten Hahn den Kopf abschlug. Die Vögel waren nur deshalb noch nicht in den Mägen der herumstreunenden Kämpfer für die rechte Sache gelandet, weil sie in den Kriegsjahren im tiefen bunkerartigen Keller gehalten wurden und nicht im Stall. Nur nachts, wenn man ein Ohr an den kalten Fußboden der Küche hielt, konnte man sie im Schlaf leise klagen hören. Singend lud Lewadskis Mutter die Vogelkadaver auf eine Schubkarre und brachte sie, von einer melancholisch eiernden Melodie begleitet, ins Dorf, um sie bei den Nachbarn gegen Gold zu tauschen. »Esst und gedenkt unser«, sagte Lewadskis Mutter an jeder Hausschwelle. Esst und gedenkt unser, wollte Lewadski vor der letzten Tür sagen, aber es machte niemand auf. Lewadski sagte es trotzdem vor der geschlossenen Tür.
    »An Hunger gestorben«, erklärte Lewadskis Mutter, die den süßlichen Verwesungsgeruch als den letzten Gruß des alten Juden zu deuten wusste, »das arme Großväterchen.« Sie machten sich auf den Rückweg. Das letzte Huhn blähte vorwurfsvoll den Sack in der Hand der Witwe. Der Alte war tot. Lewadski wollte wissen, warum.
    »Hatte er niemanden, der für ihn kochte?«
    »Er war ein Witwer, so wie ich eine Witwe bin.«
    »Was heißt das?«
    »Wenn ich eine Taube bin, ist er ein Täuberich. Verstehst du das?«
    »Ja.«
    »Und wenn ich eine Witwe bin, ist er ein Witwerich oder, abgekürzt, ein Witwer.«
    »Warum konnte der Witwerich nicht bei den Nachbarn essen?«
    »Weil er wusste, dass sie ihn nicht mochten.«
    »Warum?«
    »Weil er nicht nur ein Witwer war, sondern auch ein alter Jude.«
    »Was ist ein alter Jude?«
    »Ein alter Jude ist ein bunter Vogel. Erinnere dich an den Vogelfuttertisch, den wir letzten Winter aus Zaunlatten gebaut haben«, sagte Lewadskis Mutter, »und an die beiden Vogelarten, die immer kamen, um vom Tisch Körner zu picken. Diese Vögel heißen Kleiber und Meisen. Erinnere dich, wie es war: Der Kleiber, der immer da war, wollte nicht, dass der andere Kleiber vom Futter fraß, und fiel sozusagen über den eigenen Mitmenschen her. Die Meisen ließ er in Ruhe fressen. Bei den Menschen ist es umgekehrt. Sie wollen untereinander fressen. Vögel anderer Art sind ihnen ein Dorn im Auge.«
    »Aber sie alle sind doch Vögel!«, schrie der kleine Lewadski.
    »Menschen, willst du sagen«, korrigierte ihn seine Mutter, »ach, ich verstehe selbst nichts mehr!«
    Als Lewadski mit seiner Mutter die Försterhütte erreichte, hatte sich ein Schleier über dieses Gespräch gelegt. Als ersich über die dampfende Hühnerbrühe beugte, versank das

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