Wer Liebe verspricht
setzte sich und erzählte weiter. »Ich hatte einen Arzt rufen lassen. Wie auch immer, der Junge war schwer verletzt, und man mußte seine Wunden behandeln. Aber die beiden waren nicht mehr da, als der Arzt erschien. Die Dienstboten machten sich auf die Suche nach ihnen, aber man fand sie nicht. Später«, er zuckte mit den Schultern, »machte sich niemand mehr Gedanken darüber. Ich muß gestehen, ich war erleichtert. Mit dem Jungen hatte es von Anfang an Schwierigkeiten gegeben. Er stahl, log, war frech und aufsässig. Ich war froh, ihn endlich los zu sein. Außerdem sind diese Menschen zäh. Sie sind an Gewalttätigkeiten gewöhnt. Sie ziehen als Horden durch die Straßen und kämpfen sich durchs Leben, und, wenn nötig, lecken sie sich gegenseitig die Wunden. Ich war sicher, daß sie überleben würden.« Er lächelte schwach und trank den Cognac aus. »Damals schien es nicht weiter wichtig zu sein.«
Olivia stand auf und löschte die inzwischen nur noch schwelende Glut. Sie stellte sorgfältig den Feuerschutz vor den Kamin, legte den Schürhaken zurück und fegte die Asche vom Teppich. Ransome beobachtete sie stumm. Er sah die ruhige Art, mit der sie sich bewegte, und die Geschicklichkeit, mit der sie den Kamin für die Nacht in Ordnung gebracht hatte. »Josh und Bridget können von Glück reden, daß du in ihrer dunkelsten Stunde bei ihnen bist, mein Kind«, erklärte er, von Gefühlen überwältigt. »In dieser Katastrophe behältst du als einzige die Ruhe und die nötige Kraft.«
Olivia lachte – wie es schien, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Der leise Ton tat ihr in den Ohren weh und schien völlig unangebracht. Sie unterdrückte das Lachen, und ihre unfreiwillige Belustigung wurde zu einem Lächeln. »Das ist doch verständlich, nicht wahr?« erwiderte sie leichthin. »Denn wie es scheint, habe schließlich nur ich kein persönliches Interesse an Mr.Raventhorne – nicht wahr?«
»O nein!« widersprach er. »Deine Zeit in Indien ist ohne dein Verschulden ruiniert. Jai ist auch dir gegenüber nicht fair gewesen.«
»Vielleicht hast du recht, Onkel Arthur«, sagte Olivia. »Aber wenn es so ist, dann war er sogar sehr fair, denn er hat uns alle unglücklich gemacht.«
Allein in ihrem Zimmer konnte sie vor Erschöpfung kaum noch denken. Sie war froh über die ungeheure Müdigkeit, denn sie versprach ihr eine traumlose Nacht. Arthur Ransomes Erinnerungen riefen klare, schmerzliche Gedanken wach, aber Olivia ließ sie nicht in ihr Bewußtsein dringen. »Noch nicht«, flüsterte sie heftig in das Kissen, »noch nicht!« Es wartete noch viel Arbeit auf sie, gefährliche Unstimmigkeiten mußten mit noch mehr Lügen geglättet, durchlässige Stellen beseitigt werden, und sie mußte sich der Welt stellen.
Olivia wußte, sie würde sich nichts ersparen können und noch einmal mit Arthur Ransome sprechen. Kein Wunder also, daß es für sie keine traumlose Nacht wurde.
*
Selbst Menschen, die nur noch als leere Hüllen existieren, stellen Forderungen. Sie müssen ohne Rücksicht auf die Umstände gewaschen, gekleidet und ernährt werden. Der Überlebensdrang ist ebenso schamlos wie hartnäckig. Die Zeit ging weiter, die Erde drehte sich, die Sonne ging auf und unter. Die Familie mochte auseinandergebrochen sein, aber der Haushalt mußte funktionieren. Olivia übernahm dankbar die Aufgabe, dafür zu sorgen. Lady Bridget verließ ihr Zimmer nicht und verharrte zurückgezogen in ihrem einsamen Ich. Sie schwieg und nahm an nichts Anteil. Es war Olivia überlassen, wenigstens den Anschein häuslicher Normalität zu wahren. Wie eine Ertrinkende, die ein Stück Treibholz findet, klammerte sie sich mit beiden Händen an diese Aufgabe.
Die Nachricht von Estelles überstürzter Abreise nach England und Lady Bridgets plötzlicher ›Krankheit‹ verbreitete sich schnell. Damit stellte sich ein Strom täglicher Besucher ein. Ransome erschien jeden Morgen und brachte Sir Joshua zu sich nach Hause, wohin ihm keine prüfenden und mißtrauischen Augen folgen konnten, denn er befand sich immer noch in einem mitleiderregenden Zustand. Da man nicht erwartete, ihn tagsüber im Haus anzutreffen, gab seine Abwesenheit keinen Anlaß zu Fragen. Alle erhielten die Auskunft, Lady Bridget dürfe zur Zeit noch keine Besucher empfangen. Olivia wußte nicht, wie Arthur Ransome die Abwesenheit seines Partners im Kontor begründete, aber ihm schien es zu gelingen, ihn ohne größeres Aufsehen zu entschuldigen – im Augenblick. Diese
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