Wer Liebe verspricht
erlauben, in dieser albernen Operette aufzutreten, wäre Estelle dann auch zu diesem extremen Schritt bereit gewesen? Wenn, wenn, wenn ! Olivia schob die unerwünschten Gedanken ärgerlich beiseite. Was halfen jetzt noch wenn und aber, nachdem er nicht mehr da war!
Sie stand auf. »Ich glaube, ich gehe schlafen, Onkel Arthur. Vielleicht solltest du auch schlafen. Es war ein … merkwürdiger Tag.«
Das gemeinsame, geteilte Leid hatte dazu geführt, daß sie sich unbewußt mit dem freundschaftlichen Du anredeten. Als Olivia jetzt »Onkel Arthur« sagte, röteten sich seine Wangen erfreut. »Ja, das stimmt. Das stimmt wirklich. Dieser Tag hat viel zu viele Erinnerungen in mir wachgerufen und Wunden aufgerissen, um jetzt schon an Schlaf denken zu können. Aber natürlich, geh’ schlafen, mein Kind. Ich bleibe noch eine Weile hier am Feuer sitzen.«
Olivias Augen schmerzten vor Erschöpfung, aber plötzlich empfand sie Angst bei der Vorstellung, die Augen zu schließen und die Schar der eigenen schrecklichen Erinnerungen loszulassen, und sie setzte sich wieder. Ihr war nicht bewußt, daß es wie ein Verhör klang, als sie fragte: »Was hat Tante Bridget damit gemeint, als sie sagte: ›Ich weiß, weshalb du nicht zuschlagen konntest?‹ Um wen ging es dabei?«
Ransome schloß müde die Augen. »Es ist eine alte Geschichte, Olivia. Laß die Sache auf sich beruhen.«
Leicht verärgert fragte sie: »Wenn es eine alte Geschichte ist, weshalb ist sie dann nicht begraben und vergessen? Weshalb kann sie noch heute unser Leben belasten?«
Er dachte eine Weile nach, nickte und sagte: »Vielleicht hast du recht. Zuviel war zu lange begraben.« Er legte Holz auf die Glut und wartete, bis die Flammen züngelten. »Es gab einen Tag, da hätte Josh Jai zu Tode peitschen können. Aber Josh brachte es nicht über sich. Weißt du, Olivia, Jai war damals erst acht Jahre alt.«
Olivia fragte leise: »Du … hast ihn als Kind gekannt?«
»Ja, ich habe ihn als Kind gekannt«, antwortete er seltsam tonlos.
»Wir waren damals alle anwesend … Josh, seine Mutter, Bridget und ich. Es war etwas vorgefallen. Josh holte seine Jagdpeitsche und versetzte dem Jungen einen Schlag – nur einen. Dann schwand sein Zorn, und er hielt inne. Ihm wurde plötzlich bewußt, was er tat.« Ransome schüttelte traurig den Kopf. »Jetzt wünsche ich ebenfalls, er hätte sich damals nicht zusammengenommen …«
Die Narbe! Olivia spürte an den kalten, zusammengepreßten Lippen wieder die lange Narbe, die sie mit unzähligen Küssen bedeckt hatte, um sie mit ihrer Liebe zu heilen. Wie ein Stich durchzuckte sie der schneidende Schmerz jenes Augenblicks. Sie biß sich so fest auf die Lippen, bis sie Blut spürte, um das Gefühl auszulöschen. Raventhornes Narben und Wunden gingen sie nichts mehr an. Diese alte Geschichte durfte nicht wieder ans Licht geholt werden. Aber dann hörte sie eine Stimme sagen: »Und wie ist es dazu gekommen?«
Hatte sie gefragt? Olivia wußte es nicht.
»Vielleicht wäre es uns allen besser ergangen, wenn Jai nicht überlebt hätte«, sagte Ransome bedrückt, »aber …« Er verstummte und ließ den Kopf sinken.
»Aber?« Innerlich fragte sie sich aufgebracht: Warum ermutige ich ihn dazu, warum?
»Aber … man hat ihm Unrecht getan. Wie seelenlos, wie bösartig, wie ehrlos er auch sein mag, man hat Jai Raventhorne Unrecht getan.« Ransome lachte bitter. »Nun ja, aber man hat Jai Raventhorne immer Unrecht getan. Er gehört zu den Menschen, denen durch eine Laune des Schicksals immer Unrecht geschieht.« Er starrte in das prasselnde Feuer. »Olivia, Jai wurde in meinem Haus geboren.«
Was sie auch erwartet hatte zu hören, oder wie wenig sie hören wollte, damit hatte sie nicht gerechnet. Olivia sah Ransome fassungslos an. Trotz der Hitze des Feuers waren ihre Hände eiskalt.
»Er kam in den Dienstbotenunterkünften zur Welt. Seine Mutter war eine junge Frau von den Bergstämmen. Eines Tages fand sie mein Diener dem Zusammenbruch nahe vor meinem Tor. Sie war mittellos, ausgehungert und«, er hüstelte, »hochschwanger. Mit meiner Erlaubnis brachte man sie in die Dienstbotenunterkünfte. Und das Kind – eindeutig ein Mischling – kam in derselben Nacht zur Welt. Ich weiß noch, daß es regnete. Es war während des Monsuns.« Schwerfällig zog er eine Zigarre aus der Tasche und entzündete sie.
»Als die Frau sich erholt hatte, ließ ich sie mit dem Kind bleiben. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht wollte ich mein
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