Wer Liebe verspricht
versuche bereits, das erste klare Wort auszusprechen: Mama. Danach weinte Olivia lange. Sie wollte wie ein Vogel nach Kirtinagar fliegen, um zu hören, wie Amos nach ihr rief. Kinjal schrieb oft und schickte ihre Briefe mit einem Boten. Mit jeder neuen Nachricht wuchs Olivias Groll auf ihre egoistische Cousine.
Trotz aller persönlicher Feindseligkeiten und Ressentiments mußte in dieser erstickenden gesellschaftlichen Umgebung, die Lady Bridget und ihresgleichen in so hohen Ehren hielten, der Schein gewahrt werden – ganz besonders natürlich in Lady Bridgets Abwesenheit. Olivia machte sich nicht ohne Unmut klar, daß es nicht mehr als angemessen war, wenn sie für Estelle und ihren Mann eine Art Empfang gab. Kalkuttas Gesellschaft erwartete das, und wenn sie diese selbstverständliche Pflicht nicht erfüllte, würde das den spitzen Zungen nur noch mehr Nahrung geben. Es war ihr zwar gelungen, Estelles plötzliche Abreise geschickt und einleuchtend zu erklären, aber man hatte damals viele versteckte Andeutungen gehört. Olivia wußte, Arthur Ransome hatte Estelle ernsthaft davor gewarnt, die kursierenden Alibis unnötig auszuschmücken oder neue zu erfinden. Aber das kümmerte Olivia nicht mehr. Um jedoch alle Gerüchte endgültig zum Verstummen zu bringen, mußten Estelle und John offiziell als glückliches und ehrbares Ehepaar in die Gesellschaft der Stadt aufgenommen werden.
Als Olivia mit Arthur Ransome darüber sprach, stimmte er ihr voll und ganz zu und unterstützte die Idee nachdrücklich. Als sie ihm vorschlug, in Abwesenheit von Freddie die Pflichten eines Gastgebers zu übernehmen, nahm er mit Freuden an, obwohl er immer wieder betonte, wie ungeeignet er dazu sei, und bescheiden errötete. Olivia freute sich für Ransome, auch wenn sie der Angelegenheit wenig Erfreuliches abgewinnen konnte. Abgesehen von endlosen Rechnungen, Mahnungen und viel Kopfzerbrechen hatte er nur noch wenig vom Leben. Ein festlicher, unbeschwerter Abend würde ihm bestimmt guttun. Außerdem war es der letzte Dienst, den sie für ihre Cousine erfüllen mußte.
»Wäre es nicht richtig, die Einladungen im Namen von Onkel Josh zu schicken?« fragte Olivia und wollte sich vergewissern, daß alle Formalitäten beachtet wurden.
»Nein.« Ransome war entschieden anderer Ansicht. »Es wäre vielleicht sogar klug, Josh völlig auszuklammern. Obwohl …«, er dachte kurz nach und schloß dabei die Augen, »ich den Verdacht habe, Josh versteht sehr viel mehr, als er uns glauben macht.«
»Ach ja? Wie kommst du darauf?«
»Ich werde es dir später zeigen. Wolltest du nicht noch etwas mit Estelle besprechen? Sie ist oben in ihrem Zimmer. Ich warte auf dich in Joshs Arbeitszimmer.«
Estelle befand sich wirklich in ihrem Zimmer und schrieb Briefe. Als Olivia plötzlich erschien, strahlte sie. Olivia war zum ersten Mal nach der schrecklichen Szene wieder in diesem Zimmer. Sie gab ihrer Cousine förmlich einen Kuß auf die Wange und legte zwei in Stoff gewickelte Pakete auf den Tisch.
»Tante Bridget hat mir das vor ihrer Abreise zur Aufbewahrung für dich übergeben. Ich möchte, daß du es an dich nimmst.«
Olivias Kälte ließ Estelles Lächeln verschwinden. »Was ist es?«
»Deine Mitgift. Und das«, sie wickelte das zweite Päckchen aus, und ein dunkelblaues Samtkästchen kam zum Vorschein, »ist von Freddie und mir mit allen guten Wünschen für eine glückliche Ehe. Wir hoffen, John und du, ihr werdet viele frohe Jahre zusammen verbringen.«
Estelle öffnete neugierig das Kästchen. Auf weißem Satin lag ein erlesenes Diamanthalsband mit den passenden Ohrringen. »Ohhh!«
Sie war im ersten Augenblick sprachlos. Sie zögerte, ihre Begeisterung in dem üblichen Überschwang kundzutun, und wurde ganz still. »Das ist so … so großzügig. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke, danke euch b-beiden.« Sie schluckte und verstummte verlegen.
Olivia erklärte ihrer Cousine dann trocken, daß sie einen Empfang plane, wenn John und seine Eltern aus Madras eintrafen. Estelles winzige Spur von Ruhe war sofort dahin. Sie jubelte vor Begeisterung. »Oh, das wäre schön! Wie nett von dir, an eine so großzügige Geste überhaupt zu denken, Olivia!«
»Gut. Ich bin froh, daß du einverstanden bist. Ich werde morgen früh mit den Einladungen und den Vorbereitungen beginnen.«
»Darf ich dir helfen? Bitte! Ich würde so gern helfen!« flehte Estelle.
»Ach, das ist nicht nötig.« Olivia zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe
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