Wer Liebe verspricht
dann laut und klar. Es war der Schrei eines Neugeborenen, der laut, kraftvoll und zornig darüber schrie, daß er in eine feindliche Welt geschleudert worden war, zu Menschen, die ihn nie als einen der ihren anerkennen würden.
Olivia drehte sich um und rannte aus der Hütte. Der Schweiß lief ihr in Strömen über das Gesicht. Die Kraft der Bilder war so stark, daß es ihr den Atem nahm. Sie klammerte sich haltsuchend an einen zerbrochenen Pfosten, um nicht das Bewußtsein zu verlieren.
*
Olivia stürzte sich zwei Tage lang in die beruhigenden häuslichen Zerstreuungen. Sie konnte es sich nicht leisten zu denken, sich dem Luxus von Gefühlen zu überlassen, sich zu verunsichern. Denken machte sie schwach und nahm ihr die Willenskraft. Der Zufall hatte ihr eine Waffe in die Hand gegeben. Sie war klein, aber spitz wie eine Nadel, und sie würde ihr Ziel finden. Weder Kinjals gutgemeinter Rat noch Estelles halbherzige Liebe für den Halbbruder und auch nicht ihre eigenen Halluzinationen durften sie daran hindern, im entscheidenden Moment den Schlag richtig zu führen. Um das innere Gleichgewicht nicht zu verlieren, beschäftigte sie sich mit Saubermachen.
Olivia räumte das Kinderzimmer um, machte Ordnung in vergessenen Schränken, sortierte aus der Wäschetruhe die Laken und Kissenbezüge aus, bei denen sich das Ausbessern nicht mehr lohnte.
Sie erinnerte sich an die Grundsätze ihrer Tante und verurteilte Rashid Ali zu einer mehrstündigen, genauen Bestandsaufnahme aller Lebensmittelvorräte.
Rashid Ali war verwirrt und äußerst verstimmt darüber.
Bis zur Teezeit am Sonntagnachmittag hatte sie ihre Kraftreserven erschöpft und die häuslichen Pflichten alle erledigt, aber sie konnte trotzdem keine Ruhe finden.
Estelle hatte ihr bei den selbstauferlegten Aufgaben geholfen, aber jetzt war sie ausgegangen und würde erst nach dem Abendessen zurückkommen.
Olivia erlaubte es sich nicht, der Versuchung nachzugeben und Kinjal zu besuchen. Kinjal mit ihrem klaren Verstand würde sie doch nur von ihren Entschlüssen abbringen wollen, und Olivia konnte und wollte keine Diskussionen mehr.
Der Abriß sollte früh am nächsten Morgen beginnen.
Und Raventhorne hatte sich trotzdem noch nicht gerührt! Olivias anfängliche Zuversicht schwand, und neue Zweifel meldeten sich.
Durchschaute er ihren Trick? Sollte es für sie ein Schlag ins Leere werden? Plante er etwas in allerletzter Minute, mit dem sie nicht rechnete? Konnte es sein, daß es ihm trotz Estelles rührseliger Geschichten gleichgültig war, ob diese halb zerfallenen Hütten abgerissen wurden oder nicht …?
Nein !
Olivia rief sich zur Ordnung. Es war Jai Raventhorne nicht gleichgültig. Er würde nie zulassen, daß die armselige Behausung abgerissen wurde, in der er mit seiner Mutter gelebt hatte. Für ihn lebte in dieser Hütte noch immer der Geist seiner Mutter. Es war die Wiege, in der er gelegen hatte. Und das bedeutete: Er würde an diesem Abend einen Vorstoß unternehmen – oder nie.
»Ich gehe noch einmal zum Templewood-Haus, Mary. Der Abwasserkanal ist noch nicht desinfiziert. Er stinkt. Nein, ich brauche die Kutsche nicht. Ich gehe zu Fuß. Die Bewegung wird mir guttun.«
Olivia rannte beinahe aus dem Haus, um die Ruhelosigkeit abzureagieren.
Der weitläufige Park, durch den sie so oft geritten war, reichte bis zum Birkhurst-Palais. Er erfreute sich großer Beliebtheit als Erholungsgebiet. Die ersten kurzen Regenfälle des Monsun hatten den Staub abgewaschen, und das Gras sah aus wie ein limonengrüner Teppich. Kinder spielten und tobten ausgelassen unter der Obhut verzweifelter Ajas und weißer Kindermädchen. Die Eltern der Kinder promenierten bestimmt am Flußufer und genossen die geselligen Freuden der Erwachsenen. Andere, die körperliche Ertüchtigung der Konversation am Strand vorzogen, liefen durch den Park wie Soldaten beim Exerzieren. Elegant gekleidete Offiziere von Fort William trabten auf glänzend gestriegelten Pferden vorbei und sahen überlegen auf all die Unglücklichen herab, die zu Fuß gehen mußten. Olivia war schon lange nicht mehr durch den Park spaziert, und es gab viele überraschte Gesichter. Die Herren zogen die Hüte, und die Damen vermieden es, auf ihren dicken Bauch zu blicken. Einige blieben stehen und wechselten ein paar freundliche Worte mit ihr. Zwei oder drei Männer erkundigten sich sogar kühn, aber vorsichtig nach dem Hotel.
Es war ein kühler, windiger Abend. Nach den kurzen Regenfällen stieg feiner
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