Wer Liebe verspricht
legte die Arme um Estelles zuckende Schultern und fuhr ihr sanft über die Haare. »Ich sehe darin kein Opfer. Mein Verlust wird Freddies Gewinn sein und der meines Babys. Wenigstens dieses Kind wird einen Vater haben. Und jetzt versprich mir, die Angelegenheit nicht mehr zu erwähnen – bis es soweit ist. Deine Argumente könnten mich umstimmen, und ich weiß, das wäre falsch.«
Noch immer schluchzend nickte Estelle stumm. Aus der Saat ihrer unreifen, kindlichen Unzufriedenheit war auf teuflisch fruchtbare Weise ein scheinbar endloser Wald geworden, in dem sie sich alle verirrt hatten!
*
Der nächste Tag war ein Freitag. Olivia gab den Befehl, mit dem Abriß der Hütten auf dem Dienstbotengelände der Templewoods am folgenden Montagmorgen zu beginnen.
Estelle mochte darüber denken, was sie wollte, sie behielt ihre Ansicht für sich. Aber der junge Mordecai Abrahams freute sich. Er war ein jüdischer Bauunternehmer aus Cochin. Er hatte den höchst einträglichen und einflußreichen Auftrag durch seinen Bruder Sol bekommen, der bei Farrowsham als Bote arbeitete. Sol warnte seinen Bruder und erklärte ihm, im Gegensatz zu den meisten Memsahibs könne man diese Dame nicht so leicht mit falschen Rechnungen und fingierten Ausgaben übers Ohr hauen. Außerdem verstand sie ihre Sprache, und deshalb sollte er vorsichtig mit dem sein, was er in ihrer Gegenwart zu anderen Leuten sagte. Dann fügte er abschließend hinzu, am wichtigsten sei jedoch, alle ihre Anweisungen genauestens zu befolgen. Als deshalb Olivia dem jungen Abrahams befahl, überall zu verbreiten, der Abriß werde am Montag beginnen, schickte er seine Leute sofort durch ganz Kalkutta, damit die Neuigkeit allgemein bekannt wurde. Er verstand den Sinn dieses seltsamen Befehls nicht, aber er wußte, alle Weißen waren mehr oder weniger sankhi, exzentrisch oder verrückt. Wenn das bei den Weißen so üblich war – und die Memsahib bezahlte ihn sehr gut! –, dann bitte. Er würde sich darüber keine Gedanken machen …
Jai Raventhorne ließ nichts von sich hören – keinen Ton. Aber Olivia beunruhigte das nicht. Sie hatte den Köder gelegt. Sie wußte, er würde anbeißen, aber erst im allerletzten Augenblick, wenn ihre bereits schwachen Nerven am Zerreißen waren. Das riesige Gelände, auf dem einmal Horden von Kindern gespielt und viele Familien in den kleinen und einfachen Hütten nach den Begriffen der Weißen ›gehaust‹ hatten, schien nun von den Menschen verlassen. Mäuse, Ratten und hungrige Kakerlaken liefen raschelnd auf der Suche nach Abfällen hin und her, die es nicht mehr wie früher im Überfluß gab. Der Entwässerungsgraben war schon lange ausgetrocknet, aber der zurückgebliebene Schlamm verbreitete einen unangenehmen Gestank. Zu ihrer Linken, direkt neben dem ehemaligen Kuhstall, stand die Hütte, die ihr Arthur Ransome einmal gezeigt hatte, denn hier war Jai Raventhorne zur Welt gekommen. Sie unterschied sich nicht von den anderen – sie war dunkel, feucht und hatte ein kleines Fenster mit einem Lattengitter. Den Ziegelsteinboden hatten die Ratten unterwühlt. Der Zerfall streckte seine schleimigen grünen Finger durch die Ritzen in den Wänden – das Werk der vielen Monsunregenfälle. Olivia schlug der Geruch von Schimmel und Tod entgegen wie in einer Gruft. Und in diesem Grab war einmal Leben geboren worden …
War es in jener stürmischen Nacht vor mehr als drei Jahrzehnten so gewesen, als der Sohn der Nymphe die Augen – das Brandmal seines verhängnisvollen Erbes – aufschlug und das Licht der Welt erblickte? In welcher Ecke lag das Naturkind und bezahlte den Preis für eine Sünde, die keine war? Vor ihrem inneren Auge sah Olivia klar und deutlich eine junge Frau, die sich auf dem Steinboden in todesähnlichen Qualen wand, an deren Ende der lebensspendende Akt der Geburt stand. Gekrümmte Finger schlugen in die Luft, ein dicker Leib, der ihrem glich, wälzte sich heftig von einer Seite auf die andere. Durchdringende Schreie flehten um Gnade und Erbarmen. Warmes, dickes Blut floß in Rinnsalen langsam über den Boden auf Olivias Füße zu; es strömte stoßweise aus der gepeinigten Kindfrau, die noch nicht einmal siebzehn war. Olivia hörte den keuchenden Atem, das leise beruhigende Murmeln der Hebammen. Regen peitschte das Dach, und Wasser tropfte durch die Decke. Eine plötzliche, unwirkliche Stille breitete sich aus und lag über dem Raum. Und aus den Tiefen dieser Stille drang ein Laut – zuerst leise und
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