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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Ryman
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wieder hart. »Für den Jungen mußt du alles wissen! Du erlaubst mir sonst nichts. Gib ihm wenigstens dieses kümmerliche Wissen über mich. Indem ich es dir überlasse, reinige ich die Wunde, die du einmal als Geschwür bezeichnet hast. Du siehst«, er lachte bitter, »auch dabei denke ich nur an mich.«
    Olivia schwieg. Sie protestierte nicht noch einmal.
    »Der Wasserträger verließ mich. Er mußte sein Brot verdienen.« Jai war wieder aufgesprungen, und die ineinander verschlungenen Finger zuckten. »Er gab mir eine Kokosnußschale, in der ich die Asche sammeln sollte, wenn sie kalt geworden war. Ich tat, wie er mir befohlen hatte, und warf die Schale dann in den Fluß. Der Monsunwind war heftig und trieb sie schnell zum offenen Meer. Ich badete im Fluß, wie er mir befohlen hatte, und ein vorüberkommender Barbier hatte Mitleid mit mir. Er schor mir den Kopf und schnitt mir die Fingernägel, ohne etwas zu verlangen, denn auch das gehörte zu dem Begräbnisritual. Meine Wunden waren noch nicht verheilt und bluteten. Ich legte mich irgendwo auf die Erde, ich weiß nicht mehr wo, und schlief ein. Als ich die Augen wieder aufschlug, befand ich mich im Haus eines Fremden, und viele Tage waren seit dem Tod meiner Mutter vergangen. Ich wußte nichts mehr davon. Ich hatte alles vergessen.«
    Es war das Haus von Ranjan Moitras Eltern. Das wußte Olivia, aber sie schwieg. Um sich zu schützen, sprach Jai seltsam unpersönlich von den wohl schrecklichsten Erlebnissen, die ein Kind haben kann, als sei es die Geschichte eines anderen, eines Unbekannten. Aber Olivia wußte, die Wunde in seinem Inneren blutete.
    »In diesem fremden Haus pflegte man mich freundlich und heilte meinen Körper. In meinem Kopf war noch immer alles leer. Die guten Leute wußten nicht, wie sie den Gedächtnisverlust heilen sollten. Erst als ich zufällig zwei Jahre später Reisende aus Assam miteinander sprechen hörte, erinnerte ich mich ganz schwach und wußte, daß diese Menschen aus den Bergen kamen, wo ich zu Hause war. Sechs Monate brauchte ich für den Weg dorthin, doch ich konnte meine Leute nicht finden, denn ich wußte nicht, wen ich suchte. Jemand von unserem Stamm traf mich zufällig in den Bergen. Er erkannte mich an dem Schmuck, den der Wasserträger meiner Mutter vor der Verbrennung abgenommen und mir gegeben hatte, und nahm mich mit in das Dorf. Dort war ein alter Mann, offenbar mein Großvater. Er weinte, nahm mich auf, schenkte mir seine Liebe und brachte mir alles bei, was er wußte. Ich lernte, was man über die Erde, die Wälder und Pflanzen wissen muß, über die Jahreszeiten und über den Kreislauf von Säen und Ernten. Er zeigte mir auch die riesigen Bäume, die, wie er sagte, Teile meines Erbes seien.« Bei der Erinnerung an die Liebe, die ihm damals entgegengebracht worden war, wurde Jai weich. In seinen Augen lag der Anflug eines zärtlichen Lächelns. Dann verschwand das Lächeln, und er sprach tonlos weiter. »Aber er war ein alter Mann und durch seinen Kummer noch älter geworden. Nach einiger Zeit starb auch er. Ich schloß ihm die Augen und entzündete den Scheiterhaufen. Und als ich zusah, wie er zu Asche wurde, kehrte plötzlich meine Erinnerung zurück. Ich wußte wieder alles – wie meine Mutter gestorben war –, wo und warum. Ich erinnerte mich an das große Haus, an die Hütte, in der ich geboren worden war, an die Opiumkügelchen, die blutenden Wunden und an ihre letzten Worte. Ich erinnerte mich an Lady Bridget, an Sir Joshuas Mutter und an seine Peitsche. Aber am deutlichsten, am allerdeutlichsten erinnerte ich mich an Sir Joshua Templewood, meinen Vater.«
    Im fahlen Mondlicht waren seine Augen wie Opale. Sie glänzten hart und dunkel. Ein Schakal heulte. Andere nahmen den Schrei auf; offenbar hatten sie einen Kadaver gefunden. Olivia wagte kaum, sich zu bewegen, und sah ihn nur schweigend an. Sie wollte ihn nicht mehr unterbrechen.
    »Damals, in diesem Augenblick der klaren Erinnerung, lernte ich, was Haß ist. Es war ein erschreckendes Gefühl und so gewaltig, daß es mich zu verschlingen schien. Und als Dreizehnjähriger leistete ich am brennenden Scheiterhaufen meines Großvaters einen Schwur ohne Worte, denn in diesem Alter fehlten mir die richtigen. Dieser stumme Schwur war von einem Haß erfüllt, der die Grenzen der Sprache bei weitem überstieg. Von diesem Moment an war mein Leben vorbestimmt. Wie die Linien meiner Hände war mein Lebensweg unauslöschlich vorgezeichnet.« Er hielt ihr beide

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