Wer liebt mich und wenn nicht warum
Auerochsen könnten in dieser Zeit über die ganze Insel gezogen sein. Ich glaube, ich wecke sie jetzt mal, aber das filme ich lieber nicht. Ich nehme an, sie wird erst mal ein paar Sachen sagen, die nicht jugendfrei sind.«
Schnitt.
Als der Film weitergeht, sitzt Tom auf dem Holzsteg. Er trägt eine Jacke, seine Haare werden vom Wind zerzaust. Hinter ihm geht gerade die Sonne unter, was sehr romantisch aussieht.
»Bullshit«, sagt Tom und das klingt gar nicht romantisch.
»Im Moment tagen Sonja, Harri und Knut oben im Haus und stimmen darüber ab, ob Lilia morgen abreisen muss oder ob sie eine letzte Chance bekommt. Sie hat sich heute nämlich zwei Klöpse geleistet und irgendjemand hat sie verpetzt. Ich habe Fritzi im Verdacht, aber die sagt, sie war es nicht.« Die Wasseroberfläche hinter Tom kräuselt sich, eine Windböe zerrt an seiner Jacke, aber er beachtet das nicht. »Der erste Fehler, den Lilia gemacht hat: Sie hatte heute früh versprochen, im Gemüsegarten Blattläuse zu sammeln. Das hat sie dann aber doch nicht getan, weil sie die Sache für einen Scherz hielt. Es war aber keiner.
Dieses Problem hätte sie vielleicht noch mit Sonja klären können, aber bei Lilas zweitem Fehler war Schluss mit lustig. Wie du weißt, ist Lilia heute auf dem Hochsitz eingepennt.« Tom grinst. »Ich habe sie geweckt und sie war total panisch, weil sie drei Stunden lang keine Eintragungen in ihre Kuh-Karten gemacht hatte. Zusammen sind wir den Spuren der Kühe gefolgt und haben ihren Weg rekonstruiert. Weil ich heute an verschiedenen Stellen am Zaun gearbeitet hatte, konnte ich ihr ein paar Tipps geben, wo die Viecher um welche Zeit waren, und ich glaube, dass die Karten stimmen. Ich habe ihr also geraten, den anderen gar nichts von ihrem Tiefschlaf zu erzählen.«
Er runzelt die Stirn und blickt kummervoll in die Kamera. »Und dann hat Sonja Lilia heute nach dem Abendessen auf beide Vorfälle angesprochen und ihre Stimme war eiskalt. Lilia hat gar nicht erst versucht, sich rauszureden, sie hat einfach erzählt, wie das Ganze gelaufen ist.« Tom streicht sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht. »Das war das Beste, wassie tun konnte. Trotzdem waren alle gegen sie, und jetzt fällt gleich die Entscheidung.«
Tom schlägt mit der Faust auf den Steg. »Was mach ich denn jetzt? Ich kann doch nicht einfach rüber zum Campingplatz rudern. Ich muss doch was tun.«
Das Bild wird schwarz.
Donnerstag, 16. Juni
Haien haut man bei einer Attacke fest auf die Kiemen, dann drehen sie ab. Wenn ein Bär angreift, stellt man sich tot. Alligatoren hält man die Augen zu, damit sie nicht beißen. Und wenn sie schon zugebissen haben, haut man ihnen kräftig auf die Nase, dann machen sie das Maul wieder auf.
Mein schlaues Buch kennt Kampftricks gegen jedes Raubtier. Nur nicht gegen Vicky.
6.00 Uhr Bin eben in meinem Bett im Mädchenschlafsaal aufgewacht. Schlafe nämlich jetzt wieder im Haus, weil das fürs Gruppenklima besser ist und außerdem die Arbeitskraft erhält. Schlaf ist ja soooo wichtig. Habe gleich nach dem Aufwachen mein schönstes Lächeln angeknipst und »Guten Morgen« in die Runde gesäuselt. Ein Team ist immer nur so gut wie seine Mitglieder.
6.20 Uhr Frühstück. Von Harri eine neue Lektion in Finnisch erhalten, diesmal ein Sprichwort. Die Finnen sagen nicht, jemand habe nicht alle Tassen im Schrank. Sie sagen: »Hänellä ei ole kaikki muumit laaksossa.« Das heißt: »Er hat nicht alle Mumins im Tal.« Ich wusste gar nicht, dass diese nilpferdähnlichen Trolle aus Finnland stammen. Habe diesen Satz im Chor mitgesprochen, drei Mal. Harri war sehr glücklich!
7.00 Uhr Auf dem Hochsitz. Hellwach! Habe mit gespitztem Bleistift Pünktchen in Karten gezeichnet. Neun Pünktchen, alle 30 Minuten. Sehr schöne Pünktchen!
10.00 Uhr Schichtwechsel. Gleich kommt Simon. Wir wechseln uns jetzt alle drei Stunden ab, damit keiner einschläft.
Da ist er ja schon! »Na, hat die Kuhzunft noch Zukunft?«, ruft er von unten.
11.00 Uhr Mädchenschlafsaal gefegt.
11.30 Uhr Küchendienst.
13.07 Uhr Wieder auf dem Hochsitz, habe eben wieder Pünktchen gezeichnet. Spüre, wie um meinen Kopf herum ein Heiligenschein wächst.
13.35 Uhr Ich bin jetzt auf Bewährung hier. Wenn ich mich ab sofort gut ins Team einbringe und meinen Job ordentlich mache, darf ich hierbleiben. Wenn nicht, muss ich nach Hause fahren. Ich hatte gestern nämlich richtig Stress mit Sonja, Harri und Knut
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