Wer liest, kommt weiter
Computerspiele und Handy, die Kinder und Jugendliche fast immer vom Lernen und Lesen abhalten ...
Kritisches Denken kann eine Antwort auf Gelesenes sein. Die nächste Stufe ist das eigene Denken, das Selberdenken.
Wer liest, lernt selber denken
Immanuel Kant empfiehlt uns in seiner Schrift Was ist Aufklärung? (1784): Sapere aude! habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! In diesem Sinn schrieb auch der schon erwähnte Johann Adam Bergk in seiner Kunst, Bücher zu lesen (1799), man solle den Stoff eines Buchs als Selbstdenker bearbeiten und ihn als Eigentum unseres Geistes behandeln.
Wenn wir das eigene Denken üben wollen, sollten wir die vier Regeln für das Denken beherzigen, die Rene Descartes in der Abhandlung über die Methode, richtig zu denken, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison (1637) so formuliert hat:
Die erste: niemals eine Sache als wahr anzunehmen, die ich nicht als solche sicher und einleuchtend erkennen würde ...
Die zweite: jede der Schwierigkeiten, die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu zerlegen, als möglich und zur besseren Lösung wünschenswert wäre.
Die dritte: meine Gedanken zu ordnen; zu beginnen mit den einfachsten und faßlichsten Objekten und aufzusteigen allmählich und gleichsam stufenweise bis zur Erkenntnis der kompliziertesten ...
Und die letzte: überall so vollständige Aufzählungen und so umfassende Übersichten zu machen, daß ich sicher wäre, nichts auszulassen.
Mit dieser Anleitung ergeht es uns hoffentlich nicht so wie dem Helden in Gerhard Polts Geschichte Der Gedanke:
Ich bin – ich bin – durch den Gang gegangen, weil ich wollte aufs Klo. Da bin ich dem Doktor Bödele in den Wurf gekommen.
Der bittet ihn, bei einer Verabschiedung eine Rede zu halten:
»Und Sie, bitte machen Sie sich einen Gedanken, und den können Sie dann hervorbringen.« [...] Da hab ich noch gesagt: »Ja, Herr Doktor Bödele, wer macht sich denn heute noch einen Gedanken selber?« Ref 5
Dann aber fällt ihm tagelang überhaupt nichts ein:
Ich hab dem Gedanken alles an Lockmitteln, was ich zur Verfügung gehabt hab, habe ich ihm hingestellt: Marillenschnaps, Zwetschgenwasser, einen Obstler, einen Wodka hab ich ihm hin, einen Rum hab ich ihm hin und zum Schluß noch einen Jägermeister. Ich war am nächsten Tag wie gerädert – aber gedankenlos. Da sieht man, wie man diesen Gedanken ausgeliefert ist. Diese Gedanken kommen, kommen nicht, die machen, was sie wollen.
Am Ende hält er trotzdem seine Rede, und zwar so:
Ich hab halt statt fünf Minuten eine halbe Stunde gesprochen. Weil ich keinen Gedanken dabeigehabt hab, da dauert das länger.
Auf welche Gedanken aber können wir kommen, wenn wir diesen Monolog von Gerhard Polt gelesen oder gehört und herzlich gelacht haben? Wir könnten darüber nachdenken, was das Besondere an Gedanken ist. Was unterscheidet Gedanken von Worten und was verbindet sie mit ihnen?
Gedanken sind unhörbar, unsichtbar und meistens flüchtig. Wenn wir sie aufschreiben, werden sie sichtbar und dauerhaft. Und wenn wir die sichtbar gemachten Gedanken lesen, können wir sie hören und mehrmals hören und uns dauerhaft einprägen. Weil aber Gedanken so ungreifbar und flüchtig sind, laut Gerhard Polt ein ambulantes Geschwerl, können wir nicht so gut und manchmal gar nicht denken, wenn wir etwas Interessantes anschauen oder von Geräuschen umgeben sind.
Jetzt verstehe ich auch, warum ich, wenn ich im Unterricht versucht habe, einen schwierigen Gedanken zu formulieren, die Schüler oft nicht angesehen, sondern an die Wand oder an die Decke geschaut habe. Und für dieses Buch hatte ich die vielleicht besten Ideen, wenn ich nachts aufgewacht bin. Diese Ideen hielt ich dann gleich im Dunkeln mit Bleistift in einem Notizbuch fest.
Zu dieser bemerkenswerten Konkurrenz zwischen Denken und Schauen gibt es ein ganz erstaunliches und erstaunlich prophetisches Gelegenheitsgedicht von Goethe. Es findet sich in seinen Zahmen Xenien von 1821.
Xenos heißt auf griechisch Fremder und Gast. Xenien sind Gastgeschenke, Gelegenheitsgedichte, die der Dichter damals seinen Freundinnen und Freunden mitbrachte und heute uns:
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Dummes Zeug kann man viel reden,
Kann es auch schreiben,
Wird weder Leib noch Seele töten,
Es wird alles beim alten bleiben.
Dummes aber, vors Auge gestellt,
Hat ein magisches Recht;
Weil es die Sinne gefesselt hält,
Bleibt der Geist ein Knecht.
In diesem Gedicht
Weitere Kostenlose Bücher