Wer liest, kommt weiter
geht es um das Hören und Lesen, den Geist und das Denken, das Selberdenken. Wenn ich nämlich dummes Zeug rede oder schreibe, dann können die anderen, die mein Gerede hören oder mein Geschreibsel lesen, es als dumm erkennen. Und sie können in diesem Fall weghören oder das Buch weglegen, jedenfalls wird ihnen das dumme Zeug, weil sie es als solches erkennen, nicht schaden, und deshalb wird trotz dieser Dummheiten alles beim alten bleiben, weil das Alte im Vergleich dazu das Bessere ist.
Wenn wir aber Dummheiten sehen und hinschauen und zuschauen, dann geschieht etwas Magisches, etwas wie Zauberei. Wir erkennen eine Dummheit, die uns vorgemacht wird, nicht mehr als solche. Warum nicht? Weil unsere Augen vom Geschauten so gefesselt werden, daß wir nicht mehr richtig denken können, und dann bleibt der Geist ein Knecht. Beim Hören und Lesen bleibt der Geist eher frei, beim Zuschauen, so Goethe, ist er wie gefangen.
Das wußte der Augenmensch Goethe, der von 1791 bis 1817 Direktor des Weimarer Hoftheaters war. »Theáomai« heißt auf griechisch: ich schaue; das Theater ist eine Schaubühne. Aber mit dem dummen Zeug fürs Auge meinte Goethe bestimmt nicht die Theaterstücke von Sophokles, Shakespeare, Molière und Schiller oder die Opern von Mozart, die er alle aufführen ließ, sondern vermutlich Jahrmarktsbelustigungen. Ref 6
Wie das Sehen das Denken behindern kann, soll im 24. Kapitel genauer untersucht werden, wo es um die »Lust am Sehen« geht. Hier sei noch zitiert, was Hertha Sturm, langjährige Leiterin der Abteilung Bildung, Erziehung, Jugend beim ZDF, in ihrem Buch Der gestreßte Zuschauer (2000) zum Unterschied von Hören und Sehen geschrieben hat: Der Fernsehrezipient meinte weitaus häufiger als der Radiohörer, er habe verstanden (S. 43). Zum Schluß der interessanteste neuere Text über das Lesen und das Selberdenken, den ich gefunden habe. Ich könnte ihn einscannen, ich schreibe ihn jedoch ab, weil man beim Abschreiben auch über einen Text nachdenken kann:
Beim Lesen
Was zuweilen am meisten fesselt, sind die Bücher, die zum Widerspruch reizen, mindestens zum Ergänzen: – es fallen uns hundert Dinge ein, die der Verfasser nicht einmal erwähnt, obschon sie immerzu am Wege liegen, und vielleicht gehört es überhaupt zum Genuß des Lesens, daß der Leser vor allem den Reichtum seiner eignen Gedanken entdeckt. Mindestens muß ihm das Gefühl erlaubt sein, das alles hätte er selber sagen können. Es fehlt uns nur die Zeit, oder wie der Bescheidene sagt: Es fehlen uns nur die Worte. Und auch das ist noch eine holde Täuschung. Die hundert Dinge nämlich, die dem Verfasser nicht einfallen, warum fallen sie mir selber erst ein, wenn ich ihn lese? Noch da, wo wir uns am Widerspruch entzünden, sind wir offenbar die Empfangenden. Wir blühen aus eigenen Zweigen, aber aus der Erde eines anderen. Jedenfalls sind wir glücklich. Wogegen ein Buch, das sich immerfort gescheiter erweist als der Leser, wenig Vergnügen macht und nie überzeugt, nie bereichert, auch wenn es hundertmal reicher ist als wir.
Dieser letzte Satz reizt zum Widerspruch. Denn das Buch, aus dem dieser Text stammt, gehört zu den Büchern, die sich immer als gescheiter erweisen als wir – und uns trotzdem bereichern, wenn wir sie lesen: Max Frischs Tagebuch 1946–1949. Ref 7
Wer Zahlen liest, lernt lesen und rechnen
11 x 11 = 121
111 x 111=12321
1111 x 1111 = 1234321
Mathematik war immer mein Angstfach. Ich mußte immer verbergen, daß ich vieles von dem nicht kapierte, was Professor Urban, unser Mathelehrer, an die Tafel schrieb oder zeichnete, während mehrere Mitschüler alles gleich verstanden. Erst viel später hörte ich, daß es neben der mathematischen auch eine sprachliche Intelligenz gibt. Doch mein mathematisches Selbstvertrauen blieb verloren.
Auf der anderen Seite gab es in der Mathematik auch besondere Glücksmomente: Wenn nämlich eine Rechnung nach manchen Irrwegen endlich aufging, was man meistens daran merken konnte, daß eine ganze Zahl »herauskam«. Dann hatte sich die mühsame Rechnung sozusagen gelohnt. Den heutigen Schülern wird das »einfache« Rechnen vom Taschenrechner abgenommen. Deshalb können sie vielleicht auch weniger gut kopfrechnen – das einzige, was mir vom Mathematikunterricht geblieben ist und was im Leben durchaus nützlich sein kann. Außerdem haben die heutigen Mathematik-Aufgaben seltener ganze Zahlen als Ergebnis, was ich bedauerlich finde.
Auch heute habe ich noch viel
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