Wer lügt, gewinnt
Es gibt eine ganze Reihe von Verdächtigen, den Butler, Verwandte, Erben, Zimmermädchen, Serviererinnen, Portiers etc. Der mit einem genialen Vorstellungsvermögen begabte Detektiv Dashiel Traver wird gebeten, die Ermittlungen zu leiten. Vernehmungen, Hausdurchsuchungen, die übliche Geschäftigkeit. Und dann die Überraschung. Wer ist der Mörder? Der Butler? Nein. Der Erbe? Nein. Der Mörder ist schlicht und einfach der Erzähler der Geschichte selbst, der Arzt Roger Cain, ein enger Freund von Larry Manson, ein über jeden Verdacht erhabener Bürger, der Dashiel Traver bei seinen Ermittlungen sogar behilflich ist.
Wilmer war von dem Exposé äußerst angetan. Endlich hatte ich einen Treffer landen können. Diese Geschichte, daß der Mörder der Erzähler ist, ist eine innovative Idee, hatte er am Telefon gemeint, dieser Ignorant, und Innovation, das wissen Sie, Innovation ist immer unser Ziel. Ich habe mir auch einige Änderungen für die nächsten Bücher überlegt, sagte er. Es wäre sehr gut, die Umschlaggestaltung zu verbessern, sagte ich. Nein, erklärte er, die Umschläge bleiben, wie sie sind. Die Leser mögen diese Mischung aus Lippenstift, Revolvern und Blutlachen. Mir schwebt vor, sagte er, auf der letzten Seite ein Nachwort zum Autor zu bringen. Die Amerikaner machen das so. Ich werde Ihnen mal die Kurzbiographie vorlesen, die ich über den Autor von Wer hat Larry Manson auf dem Gewissen? geschrieben habe. Hören Sie zu. ›Richard Carr wurde in Chicago geboren und zog im Alter von sieben Jahren mit seinen Eltern nach New York. Er verbrachte seine Jugend zum Teil in England, Frankreich und Deutschland. Heute lebt er mit seiner Frau und einem Chihuahua-Hund in Kanada. Sein Hobby ist der Lachsfang.‹ Wie gefällt Ihnen das?
Von da an schrieb ich Tag und Nacht, während Fúlvia den Bestand an Antischlangenserum in jeder einzelnen Krankenstation in den ländlichen Gegenden des Landesinneren durchcheckte, eine Arbeit, die nachts im Institutsarchiv erledigt werden mußte.
Am Montagmorgen rief Wilmer an, um einen Termin für eine Besprechung im Verlag zu vereinbaren.
Lesen Sie nur den unterstrichenen Teil, sagte er und überreichte mir, kaum daß ich mich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch niedergelassen hatte, eine Fotokopie; lesen Sie laut. Ich las: › Zwanzig Regeln zum Schreiben von Kriminalgeschichten. S. S. Van Dine. Regel Nummer 4: Der Detektiv oder einer der Ermittler darf niemals der Schuldige sein. Das ist schamlose Täuschung.‹
Ich ließ das Papier sinken und sah Wilmer an. Von vorn war er ein ganz normaler Typ. Wenn er sich jedoch umdrehte, sah man am hinteren Teil seines Kopfes einen kleinen Schweif, eine Art Verzierung, einen kleinen Pferdeschwanz, zusammengehalten von einem Gummiband, wie es bei Banken zum Bündeln von Geldscheinen verwendet wird. Was wollte er mit diesem Möchtegernschwanz eigentlich sagen? Und diesen albernen modischen Hemdchen? Ich habe diese Art von Apologeten der Jugendlichkeit noch nie leiden können. In Ihrer Geschichte Wer hat Larry Manson auf dem Gewissen?, sagte er, ist der Mörder der Erzähler, ein angesehener Arzt, nicht wahr? Finden Sie nicht, daß das genau das gleiche ist? Ich antwortete, daß der Erzähler der Erzähler sei und nicht der Detektiv. Ja, gab er zurück, aber niemand kann sich vorstellen, daß der Erzähler der Mörder ist, ist das nicht auch Betrug? Sie haben meine Geschichte überhaupt nicht gelesen, sagte ich, ich habe sie ja auch noch gar nicht abgegeben, wie können Sie dann so etwas behaupten? Er argumentierte damit, wenn ein renommierter Schriftsteller wie S. S. Van Dine, ein Klassiker, sich schon die Mühe gemacht und gezeigt hatte, wie man Kriminalromane schreibt, warum ihn dann nicht haargenau befolgen?
S. S. Van Dine schreibt hier auch, daß es verboten ist, die Person des Mörders anhand einer am Tatort zurückgelassenen Zigarettenkippe zu identifizieren, sagte ich. Sehen Sie, hier steht’s. Wir dürfen auch keine Hunde verwenden, die nicht bellen, weil sie den Mörder kennen, erklärte ich, außerdem: Förster, Köche und dergleichen d ürfen nicht die Schuldigen sein. Genau das haben wir gemacht, bis zum Umfallen, sagte ich. Hunde, die nicht bellen? fragte er. Wer hat so was benutzt? Sagen Sie es, und ich setze ihn noch heute vor die Tür. Unsere gesamte Reihe strotzt nur so vor Zigarettenkippen und Butlern, die die Mörder sind, antwortete ich. Aber Hunde, die nicht bellen, gibt es keine, sagte er und fuhr fort:
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