Wer mit Hunden schläft - Roman
Auslage des Fotofroschs hing. Auf dem Leitenbauerhof befand sich keine einzige Fotografie vom Norbert. Das Abschiedsfoto und das Foto von nach der Fleischweihe waren die einzigen existierenden des kindlichen Norbert. Das Abschiedsfoto ist vom Fotofrosch wieder in seinem Studio geschossen worden, in dem es jetzt nach gerupften Hühnern und Leberkäse gerochen hat, von dem Fotofrosch seiner Jause zusätzlich. Bei dem Anblick dieses Fotos hat der Norbert später immer den Geruch von Leberkäse und gerupften Hühnern in der Nase gehabt. Ist ihm dieser Geruch von allen Erinnerungen an seine Mutter als letzte geblieben. Der Norbert und die Mutter sind am Bahnsteig gestanden und haben gehört, wie der Fahrdienstleiter das baldige Einfahren des Zuges ankündigte. Außer den beiden war keiner da. JEDER IST SEINES GLÜCKES SCHMIED , hat die Mutter gesagt und dabei an seinem Walkjanker und seinem Hemd herumgezupft. Ist ihm durch seine Haare gefahren und hat die Haut über seinem Jochbein zusammengezwickt, dass er ganz rote Wangerln gekriegt hat. MEIN LIEBER KLEINER NORLI , hat sie gesagt, mit übertriebener Freude, um damit ihre Verzweiflung zu überspielen, so wie es Erwachsene immer tun, um ihre Kinder nicht zu beunruhigen, die Kinder aber ihr Verhalten sofort durchschauen. Ihr ist die Stimme zwischen den Worten abgebrochen und sie hat sich mehrmals Tränen aus den Augen wischen müssen während des Sprechens. MACH MIR KEINE SCHANDE, HÖRST DU? , hat sie gesagt und ihr Gesicht in seinen Walkjanker gedrückt. Hat hineingeschluchzt in den hellblauen Loden, so als würde der Norbert ihr Weinen nicht bemerken, das einen dunklen Fleck auf seinem Walkjanker hinterließ. Als der Zug eingefahren ist, hat sie dem Norbert hastig in die schmalen Lederriemen seines hellroten Leinenrucksacks geholfen und dabei dessen Inhalt aufgezählt. Ein gutes Geselchtes, ein Bauchspeck, zwei Paradeiser, ein Paprika, eine Kante Bergkäse, eine Flasche Süßmost, ein halber Laib Brot, ein Apfel und ein Taschenfeitel haben sich demnach in dem Rucksack befunden, als Reiseproviant. INNE ANNE U UND RAUS BIST DU , hat die Mutter gesagt. Schon ist er im Waggon gesessen, hat das Schiebefenster aufgemacht und sich aus dem langsam abfahrenden Zug hinausgelehnt und mit schnellen Bewegungen der Mutter zugewinkt. Die ist nur dagestanden, hat beide Handflächen auf ihr Gesicht gedrückt und den Kopf geschüttelt. Zwanzig Meter hinter der Mutter ist auf einmal der Leitenbauer gestanden, in seinem schönen neuen Sonntagssteireranzug. Hat mit der rechten Hand seinen Steirerhut gehalten und in weit ausholenden Bewegungen über seinem Kopf hin und her geschwenkt, wie sonst nur die Fahne bei der Kriegerdenkmalsegnung. Immer kleiner ist er geworden, der Leitenbauer, bis er verschwunden ist, wie auch die Mutter, der Bahnhof und das gesamte Pichlberg. Der Zug war schon längst weg, ist der Leitenbauer immer noch so dagestanden und hat den zuglosen Gleisen nachgewunken. Der Norbert hat mit einem Schwung das Schiebefenster zugemacht und sich dabei Mittel- und Zeigefinger beider Hände eingezwickt. Aus Schreck und aus Scham hat er nicht geschrien. Hat die Finger angeschaut, die an den Druckstellen unter den Fingernägeln ganz weiß geworden sind und die Tränen und eine salzige Rotzglocke, die er durch die Nase gezogen hat, hinuntergeschluckt. »Sauschädelschmaus, Sauschädelschmaus, Sauschädelschmaus, hab ich mir vorgesagt, Kreisky. Hab aus dem Zugfenster geschaut, wo der Wald durch die Geschwindigkeit des Zuges wie ein verwischter grüner Fleck ausgeschaut hat. Einen grünen Fleck hab ich gesehen, sonst nichts. Das Blut hat in meinen Fingern gepocht, wie die Schwellen, über die der Zug gefahren ist, an meine Füße. Das weiß ich heute noch, als ob’s gestern gewesen wäre. Geht doch alle scheißen, hab ich mir gedacht, Kreisky, sag ich zu ihm, wirklich wahr.«
RUCKEDIGU, BLUT IST IM SCHUH , hat die Mutter immer gesagt, RUCKEDIGU, RUCKEDIGU, RUCKEDIGU . Einen Monat später war sie tot.
Die Uniform des Schaffners im Regionalzug nach Mürzzuschlag war faltenfrei. Genauso akkurat wie sein Schnauzer, der ihm aus dem Gesicht gewachsen ist und seine Oberlippe gänzlich verdeckt hat. Es war das erste Mal überhaupt, dass der Norbert in einem Zug gefahren ist. Du bist also der Norbert, der nach Wien geht, hat der Schaffner gesagt und den Norli zum Norbert gemacht. Nie wieder nannte ihn danach jemand mehr Norli. Mit dem Verlassen von Pichlberg ist der Norli gestorben. Hat der
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