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Wer mit Hunden schläft - Roman

Wer mit Hunden schläft - Roman

Titel: Wer mit Hunden schläft - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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Streik der Lokführer würde das System zusammenbrechen, hat er gesagt. Natürlich hatte der Lokführer noch nie gestreikt. Erschien sein Lebtag pünktlich bei der Arbeitsstelle, weil das Lokführen seine einzige Leidenschaft war. Überhaupt nichts mit sich anzufangen gewusst hätte er bei einem Streik. Fuhr er nicht mit einer echten Lok, lenkte er eine Modelleisenbahn durch die selbst gebaute Landschaft aus Pappmaschee, die er im Laufe der Jahre in seinem Keller gebaut hatte. Wir Lokführer haben häufig Rückenprobleme, hat er auf einmal gesagt, ohne dass der Norbert eine Frage gestellt hatte. Weil wir die meiste Zeit des Tages sitzend verbringen. Das bringt halt der Beruf mit sich, das ist so. Plötzlich setzte in Gloggnitz starker Schneefall ein. Konzentriert blickte er auf die Gleise und verringerte die Geschwindigkeit des Zuges, der sich jetzt langsam den Semmering hinaufplagte. Der Bahnhof am Semmering war verschneit. Der Fahrdienstleiter stand vor der Fahrdienstleiterhütte und schwenkte langsam die grüne Kelle über seinem Kopf hin und her. Der Lokführer schnaubte verächtlich beim Anblick des Fahrdienstleiters. Die Äste der Bäume wurden durch die Schneelast fast senkrecht nach unten gebogen, sahen aus wie zum Abschuss bereite Raketen. Der nächste Halt war Mürzzuschlag. Der Norbert stieg aus und vertrat sich die Beine. Eiskörner wurden ihm ins Gesicht geweht, dass er die Augen zu einem Schlitz formen musste, um etwas sehen zu können. Der Bahnhof hatte sich kaum verändert. Außer dass der Bahnsteig rissiger und die Farbe des Gebäudes ausgebleichter war. Menschen stiegen ein und aus, manche warteten stumm, hielten Ausschau nach jemandem. Ein humpelnder Alter kehrte den am Boden liegenden Müll in seine Schaufel und kippte ihn in eine Scheibtruhe. Dazwischen pausierte er, lehnte sich auf die Schaufel und machte einen tiefen Zug von seiner Zigarette, die zuvor gerade noch und somit kurz vor dem Absturz zwischen seinen Lippen gesteckt war. Stimmen waren keine zu hören, die Münder versteckten sich hinter dicken Schals. »Wie wenig doch die Erinnerung mit der Wirklichkeit zu tun hat. Wie wenig die Wirklichkeit der anderen mit der eigenen zu tun hat. Der Ort ist in jedem Augenblick ein anderer. Bin ich an der gleichen Stelle gestanden wie seinerzeit, als mich die Mutter weggeben hat, war sie doch nicht dieselbe. Du füllst deine Erinnerungen mit Augenblicken, Kreisky, sag ich zu ihm. Die Erinnerungen erfüllen den Ort mit Wirklichkeit. Die Wirklichkeit macht die erinnerte Heimat zur Fremde, mit der du nichts mehr anzufangen weißt, die dich abschreckt und dir feindselig vorkommt, wirklich wahr«, sagt der Herr Norbert. Der Norbert hörte den Lokführer rufen, komm rein, wir fahren weiter. Der Alte hob kurz die Hand in seine Richtung, warf den Zigarettenstummel auf den Boden und Norbert stieg ein. Der Zug fuhr jetzt langsamer, weil er die Ortschaften in kürzeren Abständen erreichte. Das Tempo beim Durchfahren der Dörfer muss genau eingehalten werden, hat der Lokführer gesagt. Wegen der Lärmbelästigung einerseits und der Unfallgefahr andererseits. Die Gefahr, jemanden zu überfahren, schwebt ständig über unseren Köpfen wie dieses Schwert, hat er gesagt. Nur wenige Lokführer würden im Laufe ihres Arbeitslebens von einem tragischen Unglück verschont bleiben. Das langsame Tempo war eigentlich für einen Unfall nicht relevant, weil man sowieso nicht rechtzeitig anhalten konnte. War es in dem Moment, in dem man den Menschen auf den Gleisen bemerkte, schon längst zu spät. Auf diesem Teil der Südbahn, zwischen Mürzzuschlag und Bruck an der Mur, mussten die Lokführer des Öfteren solche tragischen Unglücke erleben. So auch der Lokführer, der mit dem Norbert unterwegs war. Bei den Ortsdurchfahrten starrte er stumm auf die Gleise, umklammerte mit einer Hand den Hebel für das Signalhorn, mit der anderen das Notbremsventil. Eben deshalb, weil ihm dort im Winter schon einmal einer vor den Zug gesprungen war, wie er erzählt hat. Mit einem Steireranzug bekleidet und eine Augenkanne Bier in der Hand haltend, ist derjenige breitbeinig auf den Eisenbahnschwellen gestanden. Kurz vor dem Aufprall nahm er noch einen ordentlichen Schluck aus seiner Augenkanne, dann war er weg. Da bleibt nicht mehr viel übrig von dir, das kannst du mir glauben, hat der Lokführer gesagt, der, nachdem seinerzeit der Zug endlich still gestanden war und er den Bahndamm abgesucht hatte, nichts anderes fand als einen zerfransten

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