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Wer mit Hunden schläft - Roman

Wer mit Hunden schläft - Roman

Titel: Wer mit Hunden schläft - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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vorhandenen Oberschenkel glatt gebügelt und fein säuberlich übergestülpt und mit einer Sicherheitsnadel auf der Seite befestigt war. In seiner linken Hand hielt er ein Schild mit der Aufschrift Arnautovič Kinderheim , die in einer kindlichen Handschrift mit schmutzigen Wasserfarben auf den Pappendeckel hingeschmiert war. Mit seiner Rechten presste er sich ein knallrotes Megafon an den Mund, aus dem krächzend und quietschend die Worte Arnautovič Kinderheim flott hier sammeln herauskamen. »Mein Lebtag habe ich immer einen monströsen Menschen im Genick gehabt, ein Monster. Anatomie des Menschen, ist in meinem Biologiebuch in der Volksschule in dicken Blockbuchstaben gestanden. Ich kann mich erinnern, als ob es gestern gewesen wäre, Kreisky. Unter dieser Überschrift waren lauter Bilder. Die waren mit die europäische , die asiatische , die afrikanische, die mongolische und die indigene Rasse betitelt. Nur die Fressen, mit denen ich mein Lebtag zu tun gehabt habe, waren nicht dabei. Über die Leitenbauerische, Hudinische und Guritsche Kopfform ist kein einziges Wort verloren worden in diesem Biologiebuch. Was aber eigentlich sowieso egal ist, Kreisky, nicht? Selten oder nie ist man ja innerlich das, was man äußerlich darstellt. Und oft oder immer ist man vom Äußerlichen ge täuscht und vom Inneren dann umso mehr ent täuscht. Drum ist ihnen hier in Wien zum Beispiel auch ein jeder Hund lieber als der nächste Mensch oder die eigene Verwandtschaft. Das weißt du ja selbst aus eigener Erfahrung am besten, Kreisky, sag ich zu ihm, oder etwa nicht?«
    Der Guritsch hatte vom vielen Einsammelgeschrei schon einen ganz roten Kopf, der sich bereits an die Farbe des Megafons annäherte und aufgrund seiner Haarlosigkeit von Weitem ausschaute, als wäre ihm eine Trompete an das Gesicht genagelt. Um ihn herum war es schon zu einer Zwergenansammlung gekommen, in die sich der Norbert quasi nahtlos eingefügt und gleichzeitig seinem für ihn bestimmten Schicksal ergeben hatte. Mitten am Bahnsteig des Wiener Südbahnhofs roch es nach Kuh- und Schweinestall. Als wäre die Zwergenansammlung ein Ausflug der Landjugend in die Hauptstadt gewesen, nur dass bei diesem Ausflug kein Einziger wieder nach Hause kommen würde.
    Den Geruch in dem für den zivilen Straßenverkehr umgebauten, leitenbauermercedesbraunen 680’er Steyr Diesel wird der Herr Norbert nie vergessen. Diesen und den Geruch von lauwarmer Wurst, der aus den verschiedenen Rucksäcken der auf den Holzpritschen sitzenden Kinder herauskam. Fest umklammert hielten sie ihre Rucksäcke mit beiden Armen, als müssten sie die ungegessene Jause vor Diebstahl schützen. Es wurde nicht geredet. Der Guritsch knallte die Heckklappe zu und verriegelte mit einem schabenden Geräusch das Schloss und somit die Vergangenheit jedes Einzelnen. Jetzt konnte man die Ersten hören, wie sie verkrampft ihre Tränen und den Rotz hinunterschluckten, damit ihr Weinen keiner mitkriegte. Aber es kriegten natürlich alle mit. Besonders bei demjenigen, der sich neben dem Norbert hingesetzt hatte, der sich nur neben dem Norbert hatte hinsetzen können. Sich aufgrund des Norbert’schen Deppenmagnetismus konsequenterweise neben ihn hatte hinsetzen müssen! Es war ein polnisches Flüchtlingskind mit argem Mundgeruch, weil es verfaulte, eitrige Backenzähne hatte und schlechtes, stammelndes Deutsch sprach. Ein doppelt Unerwünschter unter den unerwünschten Weggegebenen, und sicherlich einer von der Familie, die ihn weggeben hatte, ab dem Zeitpunkt des Abschieds mehr oder weniger gewollt, Vergessener. »Gleich von Anfang an hab ich gewusst, dass ich den loswerden muss, Kreisky. In der lauwarmen Wurstluft, in der uns allen unsere Unerwünschtheit so richtig bewusst geworden ist, habe ich auf einmal gewusst, dass wir alle Opfer sind. Ohne zu wissen, was das überhaupt ist. Aber wenn du eines bist, dann spürst du es. Opfer bist du so wie du ein Deppenmagnet bist: Du kannst es dir leider Gottes nicht aussuchen, Kreisky, wirklich wahr«, sagt der Herr Norbert.
    Von dem Moment an, in dem er sich im 680’er Steyrer Diesel neben dem Norbert hinsetzte, wich er nicht mehr von seiner Seite. Bei der Zimmereinteilung pickte er neben ihm und legte sich auch gleich im Stockbett, in das sich der Norbert oben legte, unten hinein. Schon nach einer Woche konnte der Norbert ihn nicht mehr ertragen. Konnte es nicht mehr ertragen, das tägliche Hinüberweinen in seinen Schlaf verbunden mit dem rhythmischen Aufziehen

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