Wer Mit Schuld Beladen Ist
Arbeit gesucht. Aber ich wusste nicht, dass er ein Gauner ist. Ich nehme keine Gauner.«
»Was hat Sie denn veranlasst, ihn nicht einzustellen?« Russ setzte seine Brille wieder auf.
»Wenn ich noch nie mit einem Kerl gearbeitet habe, mache ich einen ganz einfachen Test. Ich gehe mit ihm über die Baustelle und lasse mir zeigen, wie er fünf verschiedene Arbeiten durchführt. Charlies Bruder wusste gerade mal, wie man einen Hammer schwingt.«
»Charlie, haben Sie versucht, Ihrem Bruder eine Stelle bei meiner Frau zu verschaffen?«
Charlie war entgeistert genug, um seine Angst vor Russ zu vergessen. »Machen Sie Witze? Er konnte nicht nähen. Mit den Zimmermannsarbeiten wäre er klargekommen, das ist einfach. Aber nähen?«
Russ’ Hand zuckte. Charlie sah es und trat wieder hinter Ray. »Ich meinte, Haustiere hüten, auf das Haus aufpassen. Wie immer Sie es nennen wollen.«
Charlie schüttelte den Kopf. »Haustiere hüten ist Frauenarbeit. Seine Freundin macht so was. Wird mies bezahlt, aber sie liebt die ›kleinen, flauschigen Viecher‹« – Charlies Stimme stieg ins Falsett – »und unter uns, es ist das Beste, was sie tun kann. Dumm wie eine Packung Nägel.«
»Sie ist tot«, sagte Russ.
Charlie fiel die Kinnlade runter.
»Jemand hat ihr die Kehle aufgeschlitzt und sie dann wie Roastbeef in Scheiben geschnitten.«
Charlies Mund stand noch immer offen. Nach ein paar Sekunden fragte er: »Verscheißern Sie mich?«
»Wir halten Ihren Bruder für den Täter.«
»Nein.« Charlie schüttelte den Kopf. »Nie im Leben. Er ist ganz verrückt nach Audrey.«
»Das sind eine Menge Typen, die ihre Frau oder Freundin umbringen.«
»Nee, nicht in diesem Sinn verrückt. Er, er« – Charlies Blick irrte umher, offensichtlich war es ihm peinlich, das Wort vor Zeugen auszusprechen – »liebt sie.«
Russ war nicht in der Stimmung, Dennis Shambaughs Gefühlsleben zu diskutieren. »Er hat einen Officer angegriffen, ein Auto gestohlen und ist vor der Vernehmung geflohen. Haben Sie irgendeine Vorstellung, wo er sich aufhalten könnte?«
»Nein.«
»Charlie, wenn Ihr Bruder Audrey Keane nicht umgebracht hat, muss er sich unbedingt stellen und eine Aussage machen.«
»Ich weiß nicht, wo er steckt. Zum letzten Mal habe ich an Weihnachten mit ihm geredet. Bei Frannie zu Hause. Unsere Schwester. Mary Francis Delacourt. Sie lebt in Fort Henry.«
»Könnte er zu ihr geflüchtet sein? Oder zu einem Ihrer anderen Geschwister?«
»Keine Ahnung.«
Russ rieb sich die Nasenwurzel. »Wenn er sich bei Ihnen meldet, setzen Sie umgehend die Polizei von Millers Kill in Kenntnis.«
»Sicher.«
Sicher. Russ atmete tief ein, aus. »Eine letzte Frage. Ray sagte, Sie hätten meiner Frau – der Vorhang-Lady – hin und wieder bei der Arbeit geholfen.«
»Ja.« Charlie nickte heftig, ein Muster an Hilfsbereitschaft. »Reizende Dame.«
»Stimmt. Haben Sie je gehört, dass sie über Reisen sprach oder über einen Wochenendtrip, den sie plante? Irgendetwas in dieser Richtung?«
»Über Weihnachten wollte sie nach Montreal. Mit ihrem Mann.« Die Augen blitzten auf. »Das sind Sie.«
Himmel. Wenn Charlie die Freundin seines Bruders für dumm hielt, konnte ihr IQ den eines Schwamms kaum überschritten haben. »Abgesehen davon.«
»Nö«, sagte Charlie. »Tut mir leid.«
Da war er. Der Moment, den Russ gefürchtet hatte, der Moment, in dem seine letzte Spur im Nichts verrann.
»Obwohl«, sagte Charlie.
»Was?«
»Sie hatte ’nen Haufen Zeug hier.«
»Einen Haufen Zeug?«
»Sie wissen schon. Einen Koffer, einen dieser Kosmetikkoffer, die Frauen benutzen. Solches Zeug.« Sein Blick wanderte von Russ zu Ray und Barbara LeBlanc. »Mr. Opperman hat ihr ein Zimmer überlassen, in dem sie ihr Zeug lassen konnte.«
Barbara sah Russ an. »Davon höre ich zum ersten Mal. Obgleich es für ihn natürlich ein Leichtes gewesen wäre, ihr einen Generalschlüssel zu geben. Ein Bund davon liegt unten. Falls jemand länger arbeitet oder eingeschneit wird, kann er hier übernachten.«
»Könnte sie …«
Doch Barbara schüttelte bereits den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen. Niemand könnte mehr als eine Nacht hier verbringen, ohne mir, dem Bautrupp oder dem Hausmeister aufzufallen. Außerdem hätte sie als Mr. Oppermans Gast doch überhaupt keinen Grund, sich vor irgendjemandem zu verstecken.«
»Es sei denn, sie versteckt sich gar nicht.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, sie könnte irgendwo hier drin sein, nicht in der Lage,
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