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Wer Mit Schuld Beladen Ist

Wer Mit Schuld Beladen Ist

Titel: Wer Mit Schuld Beladen Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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klappte auf, seine Lungen schnürten sich zusammen. Sein Blickfeld verengte sich, und in seinem Kopf ertönte ein lautes, trockenes Schaben, als würde sein Verstand sämtliche Karten auf den Tisch legen. Linda, die sich am Ende des Tages in ihrem Lieblingssessel ausruhte. Sie beide, wie sie sich über die Haube ihres Autos hinweg anbrüllten. Eine Beerdigung – er hatte noch nie eine Beerdigung organisiert, wusste nicht, wie das funktionierte, wusste nicht, wen er anrufen musste. O Gott, er würde ganz allein alt und schwach werden, ohne seine Frau, seine wunderschöne Frau …
    Das Gefühl, wenn sein Finger den Abzug durchzog und er einszweidreivierfünf Kugeln in ihren Mörder pumpte. Einfach so.
    Erinnerungen. Schuld. Verwirrung. Selbstmitleid.
    Zorn.
    Er hielt sich an den Zorn. Alles Übrige umwaberte und umschwirrte ihn, und er wusste, wenn er aufhörte, das in Betracht zu ziehen, würde er zusammenbrechen. Er durfte nicht zusammenbrechen. Er hatte eine Aufgabe.
    Er hielt sich an den Zorn.
    »Harlene? Ist die Mutter vom Chief endlich hier?« Lyles Stimme war rauh vor Furcht. »Chief? Russ?« Jemand rüttelte an seiner Schulter.
    Sein Blick wurde klar. Lyle war aufgesprungen und beugte sich über den Tisch, seine Hände packten Russ’ Flanellhemd und schoben es zu unbequemen Wülsten zusammen. »Jesus Christus, Chief, ich dachte, du hättest einen Schlaganfall. Alles in Ordnung? Möchtest du dich hinlegen?«
    »Nein.« Er hielt sich an den Zorn. Er hatte eine Aufgabe. »Ich will den letzten Stand aller Ermittlungsergebnisse.«
    »Vor morgen werden wir nicht in der Lage sein, uns ein zusammenhängendes Bild zu machen. Die Spurensicherung ist momentan am – in eurem Haus. Der Gerichtsmediziner sollte mittlerweile auch dort sein. Ich kann Mark und Noble die Nachbarn befragen lassen, ob die was gesehen haben.«
    Russ versuchte zu schnauben. Es wurde ein Keuchen. »Nicht sehr wahrscheinlich.«
    »Ich weiß.«
    »Ich will den Tatort sehen. Ich muss – ich muss feststellen, ob sich etwas nicht an seinem Platz befindet.« Er hatte das Gefühl, als müsste er seine Gedanken, einen nach dem anderen, einen langen, düsteren Pfad hinunterschieben. »Was glaubst du … gewaltsames Eindringen?«
    »Meinst du Einbruch? Nach dem, was ich sehen konnte, wohl nicht. Mir ist nicht aufgefallen, dass etwas fehlte, es sei denn, ihr habt euch seit der Einladung im letzten Sommer mit Silber und Elektrogeräten eingedeckt. Es gab keine Hinweise auf gewaltsames Eindringen. Die Sturmläden saßen sämtlich an Ort und Stelle. Sie« – Lyle schluckte schwer und fuhr fort – »sie schloss immer die Tür ab, wenn sie allein zu Hause war, richtig?«
    Russ nickte. Er hörte Geräusche, draußen vor der Tür, im Korridor.
    »Ich glaube, deine Mutter ist da.«
    »Ich muss den Tatort sehen.« Er blickte auf, Lyle ins Gesicht.
    »Das wirst du. Nur nicht heute Abend. Vertrau mir, Russ. Nicht heute Abend. Fahr mit deiner Mutter nach Hause.« Die Geräusche wurden lauter. Schritte und Stimmen. Klopfen auf Milchglas, und ehe er reagieren konnte, schwang die Tür auf und seine Mutter stand dort, klein und gedrungen und schön.
    »Oh, mein Liebling«, rief sie mit tränenerfülltem Blick. Dann war sie da, bei ihm, schlang ihre Arme um ihn. Sein Kopf ruhte an ihrer Schulter, und er drückte sein Gesicht in das violette Sweatshirt, das für ihn auf ewig die Farbe der Trauer sein sollte, während sie seinen Rücken streichelte und murmelte: »Oh, mein Junge, mein armer Junge«, und Tränen weinte, die er sich nicht erlauben konnte.

7
    Dienstag, 15. Januar
    C lare erwachte am frühen Morgen in der kalten Hütte in dem Bewusstsein, dass sie heute in die Zivilisation zurückkehren musste, um die neue Diakonin zu treffen, die der Bischof ihr aufbürdete. Bei diesem Gedanken hätte sie eine Grimasse schneiden müssen, doch selbst Verdruss war mehr, als sie an diesem Morgen leisten konnte.
    Sie stand auf; sie zog sich an; sie zog das Bett ab und warf die Bezüge zusammen mit den Servietten und dem Tischtuch in die Waschmaschine. Ihr Versuch eines Morgengebets war ärmlich; ihr fehlten die Worte. Sie hatte das Gefühl, in einem Kühlschrank zu knien. Schließlich las sie einfach den einundfünfzigsten Psalm laut: Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist; ein geängstet und zerschlagen Herz wirst du, Gott, nicht verachten.
    Nun, sie war vielleicht in anderer Hinsicht nicht ganz auf der Höhe, aber einen »geängsteten Geist und ein

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