Wer Mit Schuld Beladen Ist
selbst hingehen und nachsehen, Chief, aber da ist kein Messer.«
10
M ark legte den Hörer auf und rieb sich die Augen. Sie waren trocken, sandig, trotz der vier Stunden Schlaf, die er zu Hause ergattert hatte. Ehe sie zu ihrer Schicht im Krankenhaus gefahren war, hatte Rachel sehr deutlich darauf hingewiesen, dass er nicht mehr zwanzig von vierundzwanzig Stunden arbeiten müsste, wenn er bei der State Police wäre.
Harlene steckte den Kopf in die Einsatzzentrale. »Was Neues?«
Er grunzte. »Eine Menge.« Er klopfte mit dem Füller auf den Notizblock, den er mit Namen, Daten und Adressen gefüllt hatte. »Der Trick ist, nicht den Überblick zu verlieren. Die meisten dieser Kerle wurden aus Fort Leavenworth entlassen. Wo sie jetzt sind, weiß keiner.«
Der Chief hatte am Morgen, ehe er zum Tatort aufbrach, versucht, sich an ein paar Namen zu erinnern. Typen, die er im Lauf der Jahre eingebuchtet hatte und die nun hinter ihm her sein könnten. Er hatte elend versagt. Selbstverständlich war es angesichts seines Zustands ein Wunder, dass er sich überhaupt an seinen eigenen Namen erinnern konnte, von den Namen der vor langer Zeit verhafteten Kriminellen ganz zu schweigen. Harlene war herbeigeeilt und hatte eine alte Kopie der Militärakte des Chiefs hervorgezaubert, die Beförderung um Beförderung um Beförderung auflistete. Außerdem noch ein ganzes Bündel Belobigungen und Orden, die der Chief nie erwähnt hatte. Typisch.
Jetzt hatte Mark die Spur in Angriff genommen, indem er versuchte, Behördenmitarbeiter davon zu überzeugen, alte Fälle auszugraben, und sich ihre Auskünfte notierte. »Weißt du, eigentlich sollte Eric McCrea das machen«, sagte er zu Harlene. »Er ist in der Nationalgarde. Er weiß, wie man mit diesen Leuten redet.«
Harlene schnaubte. »Klar, als wenn du irgendein langhaariger Hippie wärst, der da nicht hinpasst. Du bist der gepflegteste Typ in der ganzen Truppe, einschließlich Eric McCrea.«
Mark strich sich verlegen mit der Hand über seinen Bürstenschnitt. »Meinst du?« Er war stolz auf seine Erscheinung, auf seine Disziplin in kleinen Dingen.
Harlene stupste ihn. »Keine Sorge. Du machst das prima.« Sie tippte gegen den knochentrockenen Becher neben seinem Block. »Normalerweise biete ich das ja nicht an, aber du siehst aus, als könntest du einen Kaffee brauchen.«
»Gern, danke.«
Vom Eingang her ertönte ein leises Geräusch. Mark und Harlene drehten sich um. »Ist … wissen Sie, wo Chief Van Alstyne ist?«
Mark hatte Clare Fergusson in den vergangenen zwei Jahren häufig gesehen, unter anderem bei vielen Gelegenheiten, bei denen man eine Priesterin nicht unbedingt erwarten würde. Er hatte sie spät in der Nacht im Krankenhaus getroffen, vom Flusswasser triefend, verschmiert mit Schlamm und Blut und Ruß. Aber er hatte sie nie … verzweifelt erlebt. Sie hatte ihr dunkelblondes Haar zu einem strähnigen Pferdeschwanz gebunden, und ihre Haut spannte sich über den Knochen, was ihr ein noch spitzeres Aussehen als üblich verlieh.
Harlene, deren Herz – wie der Chief immer sagte – ebenso groß war wie ihr Mundwerk, lief zu ihr hinüber, breitete die Arme aus und umarmte die größere Frau samt Parka und allem. »Sie haben es gehört, nicht wahr?«
Die Pastorin nickte. »Ich bin erst heute Morgen von einer einwöchigen Klausur zurückgekehrt. Ich war eben in einer Besprechung, als meine Freundin Dr. Anne mir davon erzählt hat.«
Harlene trat einen Schritt zurück, hielt aber nach wie vor Clares Arme fest. »Ich schätze, inzwischen hat es in allen Krankenhäusern von Washington County und Glens Falls die Runde gemacht. Wenn Ärzte und Schwestern genauso schnell arbeiten wie tratschen könnten, gäbe es auf der ganzen Welt keine Kranken mehr.«
»Was … was ist passiert?«
Harlene holte gerade tief Luft, um der Pastorin alles zu erzählen, als Mark ihr zuvorkam. »Sie ist irgendwann am Wochenende getötet worden. Vielleicht am Montag. Das ist alles, was wir im Augenblick sagen können.«
Die Augen der Pastorin wirkten riesig in ihrem schmalen Gesicht. »Könnte es ein Unfall gewesen sein?«
Mark schüttelte den Kopf. Sie sah zu Boden. »Das hatte ich auch nicht angenommen«, sagte sie. »Ich hatte nur gehofft …« Sie hob den Kopf und blickte Harlene an. »Ich weiß nicht mal, ob es eine gute Idee ist, wenn ich mich bei Russ melde. Aber ich musste etwas tun. Wie geht es ihm?«
Mark antwortete, ehe Harlene etwas sagen konnte. »Ich schätze, Sie müssen
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