Wer Mit Schuld Beladen Ist
willen, sie ist Priesterin.«
»Oh, richtig«, erwiderte er. »Das habe ich vergessen. Priester tun nie etwas Falsches. Hallo? Katholische Chorknaben?«
»Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass sie es war.«
Er zuckte die Schultern. »Sicher, sie scheint immer sehr nett zu sein. Aber, zum Teufel, Harlene, wenn es hart auf hart kommt, können selbst nette Menschen ziemlich schlimme Dinge tun. Ich sag dir eins« – er nickte in Richtung der offen stehenden Tür der Einsatzzentrale – »ich glaube nicht, dass sie uns die Wahrheit sagt, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«
11
D u solltest das lieber lassen.« Lyle wandte kurz den Blick von der Straße ab. »Du bist ja nicht mal imstande, zusammenhängende Fragen zu stellen.«
Russ, der auf dem Beifahrersitz in sich zusammengesunken war, antwortete nicht.
»Das ist mein Ernst, Mann. Du solltest zu Hause sein und das Ganze verarbeiten. Dich von deiner Familie trösten lassen.«
Aus dem CD-Player erklangen die Dixie Chicks, fröhliche, saubere Musik von einem Planeten, der nichts mit dem seinen gemeinsam hatte.
»Komm, ich fahr dich zu deiner Mutter. Soll deine Schwägerin nicht bald eintreffen?«
»Gottverdammt. Ich muss nicht nach Hause zu meiner Mutter rennen. Ich muss herausfinden, mit wem, zum Teufel, Linda verabredet war. Ich werde dir sagen, wie ich ›das Ganze verarbeiten‹ werde. Indem ich ihren Mörder finde und umlege.«
Lyle sah ihn wieder von der Seite an. »Erwähn das unbedingt bei Meg Tracey. Ich bin sicher, das wird sie beruhigen und uns helfen, ihr jede Menge Informationen zu entlocken.«
»Ich bin kein Idiot. Ich werde ihr keine Angst machen.«
»Chief, du machst mir Angst.«
Russ schloss die Augen und lehnte sich gegen die Kopfstütze. Er würde sich nicht mit seinem Stellvertreter anlegen. Das hier war keine Folge von Raumschiff Enterprise, in der Lyle ihn ins Schiffsgefängnis werfen musste, weil er sich sonderbar benahm. Die Chicks sangen If I fall, you’re going down with me, ein Lied, das ihn unwiderstehlich an Clare erinnerte, und erneut schnürte sich seine Kehle vor Selbstekel zusammen; seine Frau war tot, und er dachte trotzdem an eine andere Frau, trauerte um sie, sehnte sich nach ihr. Seine Schwäche bestärkte ihn in seinem Entschluss. Wenn er schon nicht so uneingeschränkt um Linda trauern konnte, wie sie es verdiente, blieb ihm dennoch das Nächstbeste. Er konnte ihr ihren Mörder zu Füßen legen.
»Das da?«
Russ schlug die Augen auf. Lyle hatte den Pick-up an den Straßenrand gelenkt. Er zeigte auf ein Haus auf der anderen Seite. »Ja«, bestätigte Russ. »Das da.«
Das Haus der Traceys war rund hundert Jahre alt, ursprünglich wohl für einen Sohn oder eine Tochter aus dem größeren Farmhaus nebenan erbaut. Das Ackerland war schon vor Jahren parzellenweise verkauft worden, und an der Straße reihten sich Fertighäuser, Wohnwagen und selbstgebaute Holzhütten – was immer sich die jeweiligen Käufer hatten leisten können.
Russ und Lyle erklommen die Verandatreppe und klingelten. Fürchterliches Gebell setzte ein. Nach einem Moment bewegte sich der Vorhang am Fenster. Die Tür sprang auf. Meg Tracey, die Augen rot verschwollen, den dünnen Körper in einen viel zu großen Sweater gewickelt, blockierte den schmalen Eingang. Sie starrte Russ an. »Was willst du denn hier?«
Lyle griff in seine Manteltasche und zückte seine Dienstmarke. »Wir sind dienstlich hier, Mrs. Tracey. Dürfen wir eintreten?« Er musste seine Stimme heben, um die kläffenden Hunde zu übertönen.
Sie musterte flüchtig die Marke, dann wanderte ihr Blick sofort wieder zu Russ. Ihm wurde bewusst, dass sie Angst hatte. Vor ihm. Unvermittelt gewann Lyles Vorschlag, ihn nach Hause zu bringen, eine ganz andere Qualität. MacAuley hatte nicht nur versucht, Russ’ Gefühle zu schützen. Ihm war im Gegensatz zu Russ klar, dass sie im Verlauf der Ermittlungen mit Leuten sprechen würden, die Russ für schuldig hielten.
An Lindas Tod.
»Ich habe bereits gestern Abend meine Aussage gemacht. Bei Officer McCrea.«
»Ich weiß.« Lyle klang herzlich und dankbar. »Danke. Doch Sie haben nicht nur Mrs. Van Alstynes Leiche entdeckt. Sie waren ihre beste Freundin. Wir hoffen, dass Sie uns als Freundin helfen können, ein paar Lücken zu füllen. Uns ein deutlicheres Bild ihrer letzten Tage zu vermitteln.«
Ihr Blick flatterte argwöhnisch, doch sie trat von der Tür zurück. Im selben Moment rannten zwei kniehohe weiße Eskimohunde auf
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