Wer Mit Schuld Beladen Ist
Reiter mit der Aufschrift OROCO STOFFE und SOZIALVERSICHERUNG und KREDITOREN – NÄHERINNEN, bis er auf die Finanzunterlagen stieß, die er ohne nähere Betrachtung Kevin in die Arme schob. Ein Gefühl der Dringlichkeit beherrschte ihn. Lindas Mörder hatte schon fast vierundzwanzig Stunden Vorsprung. Was, wenn er ihre Konten bereits leergeräumt hatte und verschwunden war?
»Bring das zu Lyle«, befahl er.
Kevin sprintete aus dem winzigen Büro und ließ Russ allein mit den Papierspuren seines gemeinsamen Lebens mit Linda zurück: Hypothekenzahlungen und Stromrechnungen, Kreditkartenbelege und Quittungen fürs Schneepflügen. Ihm fiel auf, wie seltsam unpersönlich das Haus ohne sie wirkte, das Büro organisiert, aber nicht genutzt, die Räume eingerichtet, doch unbewohnt. Sein Geist schweifte ab zum Pfarrhaus von St. Alban’s an der Elm Street – Tische voller Fotografien, Bücher und Erinnerungsstücke, die aus den Regalen quollen, um sich neben weichen Sesseln zu häufen. Ein sehnsuchtsvoller Ton durchdrang ihn, das Verlangen, zu diesem Haus zu gehen und sich in einen dieser Sessel fallen zu lassen und seine Sorgen bei der Frau abzuladen, die dort lebte …
Ruckartig richtete er sich auf. Gott, was für ein Ungeheuer war er? Seine Frau lag auf dem Tisch des Pathologen, und er verglich sie mit einer anderen Frau? Er rieb sich das Gesicht, als könnte er seine Schuld fortwaschen, und seine Brille verrutschte. Er rückte sie zurecht und konzentrierte sich auf die Akten. Er zog die Schreibtischschubladen auf. Hier musste doch etwas Persönliches liegen. Etwas, das ihn mit seiner Frau verband und sie beide mit der Welt.
Ihr PC. Er schaltete ihn ein und blätterte durch weitere Akten, während er hochfuhr. Er benutzte das Ding nie – er zog es vor, im Revier zu telefonieren und zu Hause seine Ruhe zu haben –, doch Linda stand in E-Mail-Kontakt mit ihren Freunden, ihrer Schwester, jedem.
Der Monitor, der früher eine Reihe von Stoffmustern gezeigt hatte, überraschte ihn mit einem fast nackten Kerl, der mehr als die übliche Menge an Muskeln aufwies. Okay. Vielleicht gehörte das zu dem Prozess, von dem ihr Therapeut wollte, dass sie ihn durchlief. In Berührung damit zu kommen, was sie außer Ehefrau noch alles war. Seine Mundwinkel zuckten nach oben. Er hatte etwas Persönliches finden wollen. Nun, hier war es.
Er setzte sich auf den Bürostuhl und klickte auf den Posteingang. Ein Schriftzug unter dem Fenster informierte ihn, dass Nachrichten heruntergeladen wurden, und ein pulsierender Balken blinkte fast eine Minute lang. Nachdem der Vorgang beendet war, sprangen verschiedene Fenster auf, eins über dem anderen. In einem stand DEBBIE – ihre Schwester. Ein weiteres NÄHERINNEN, eins IN, eine MEG, eins SMBW – er klickte es an; es schien sich um eine Mailingliste der Small Business Woman Association zu handeln, der sie angehörte.
Plötzlich begriff er. Im Cyberspace ebenso durchorganisiert wie im wirklichen Leben, hatte Linda ihre Nachrichten in verschiedene Ordner gefiltert. Er klickte auf DEBBIE. Es sah aus, als hätten sie und Linda sich seit November mehrmals am Tag geschrieben. Die jüngste Nachricht – die sie niemals lesen würde – trug den Betreff: »Auf geht’s, Mädchen!«
Zahlreiche Mails waren hin und her gegangen, die seiner Einschätzung nach ihn betrafen; sie trugen Betreffzeilen wie »So ein Wichser!!!« und »Männer sind Schweine«. Er ließ sich in den Stuhl sinken. Was, zum Teufel, hatte er geglaubt, hier zu finden? Er hatte der Frau, mit der er seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war, gestanden, in eine andere Frau verliebt zu sein. Was hatte er denn gedacht, das sie ihrer Schwester und ihren Freunden schreiben würde? Was für ein toller Bursche er war?
Mit der masochistischen Empfindung, jede Schmähung zu verdienen, klickte er auf die letzte Mail von Linda an ihre Schwester. Der Betreff, der eine ganze Menge der Nachrichten betitelte, lautete »Mr. Sandman«.
D–
Ich tu’s. 1. Mir egal. 2. Mir egal. 3. Mir egal. Ruf mich an.
Alles Liebe, L.
Ein paar Nachrichten weiter fand sich eine Mail von ihrer Schwester an Linda.
Hi, Lin,
du musst dir folgende Fragen stellen: 1. Tue ich es nur, um mich an Russ zu rächen? 2. Komme ich damit klar, für eine Zicke gehalten zu werden, wenn ich die Annäherungsversuche von Mr. S. abwehre (ja, er wird, und ja, du wirst)? 3. Hilft ein Mann, der meine Attraktivität schätzt, mir wirklich dabei, herauszufinden, was ich will?
Diesen
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