Wer Mit Schuld Beladen Ist
aus dem angrenzenden Badezimmer. »Sieht nicht so aus, als wäre da drin etwas angerührt worden«, meinte er. »Nahm sie irgendwelche verschreibungspflichtigen Medikamente, auf die es jemand abgesehen haben könnte?«
»Nein, es sei denn, Östrogen wird neuerdings auf dem Schwarzmarkt gehandelt.«
Lyles Mundwinkel krümmten sich nach oben, und Russ erwischte sich bei einem halben Lächeln, während er an Lindas Witze über Hitzewallungen dachte. Im nächsten Moment schossen ihm die Tränen in die Augen, und er musste sich abwenden und nach dem Türknauf tasten. »Wir sollten uns den Rest des Hauses ansehen«, schlug er vor, als seine Kehle wieder ihren Dienst tat.
Er wusste schon, ehe sie unten waren, dass nichts fehlen würde, und er behielt recht. Die Stereoanlage, der DVD-Player, das Silberzeug, das sie über die Jahre zusammengetragen hatte – alles war da. Er und Lyle wollten gerade in das kleine Büro neben dem Salon gehen, in dem Linda die Rechnungen bezahlt und ihren Papierkram erledigt hatte, als Kevin Flynn seinen Kopf hereinsteckte. »Chief?«, sagte er zögernd. »Es tut mir leid, wenn ich Sie störe, …«
»Was ist denn, Kevin?«
»Es ist nur – wo hat Mrs. Van Alstyne ihre Handtasche aufbewahrt?«
»Ihre Handtasche?«
»Ich bin gerade zur Scheune rüber, um mir ihren Kombi anzusehen, und da musste ich an meine Mom denken, die ihre Schlüssel gern in der Zündung stecken lässt, deshalb habe ich irgendwie nach einem dieser Haken gesucht, als ich wieder im Haus war, so wie Leute sie manchmal haben, in der Küche oder im Windfang, haben Sie aber nicht, deshalb habe ich angefangen, darüber nachzudenken, wo Damen ihre Schlüssel aufbewahren, wenn sie sie nicht im Auto lassen, und da dachte ich an ihre Handtasche. Oder?«
Russ wollte nicht darüber nachdenken, was es Kevins Lunge gekostet hatte, diesen Satz hervorzupressen. Einer der Vorteile eines Dreiundzwanzigjährigen. »Mrs. Van Alstyne hängt ihre Handtasche immer an einen der Garderobenhaken im Windfang, Kevin. Vermutlich wird sie von einem Mantel verdeckt.«
»Nein, Sir, daran habe ich gedacht. An den Haken hängen keine Handtaschen. Ich habe das kontrolliert.«
Russ war durch das Wohnzimmer, die Küche und im Windfang, ehe er daran denken konnte, sich vor dem Raum zu fürchten, in dem Linda gestorben war. Er warf die Scheunenjacken und Parkas und Regenumhänge auf den Boden, einen nach dem anderen, bis sie die Tür zur Sommerküche blockierten und die altmodischen Eisenhaken matt im Licht der Morgensonne schimmerten, die durch das rautenförmige Fenster in der Windfangtür strömte.
Keine Handtasche.
Er wirbelte zu Lyle herum. »AllBanc«, stieß er hervor.
»Schon dabei«, erwiderte Lyle, der in seinem Jackett nach dem Handy angelte.
Russ lief zurück durch die Küche. Seine Furcht hatte sich in der Hitze einer möglichen Spur verflüchtigt. »Ich hol dir die Kontonummern«, rief er über die Schulter.
»Glauben Sie, der Täter hat ihre Handtasche mitgehen lassen?«
Kevins Stimme überraschte ihn. Er hatte nicht bemerkt, dass der Junge ihm auf dem Fuß gefolgt war.
»Ja«, sagte er. Er wollte schreien: Warum ist euch das gestern Abend nicht aufgefallen, ihr Idioten?!, doch er wusste, dass Vorwürfe keine Ergebnisse brachten. Er öffnete die Tür, die von der Küche in Lindas Büro führte. Zwei Aktenschränke flankierten ihren Schreibtisch, einer für häusliche Angelegenheiten, einer für ihr Unternehmen. Er riss die oberste Schublade des Hausschrankes auf. Er konnte das Ganze ebenso gut für eine Unterweisung Flynns nutzen. »Der Täter hat Wertsachen liegen lassen, aber die Handtasche mitgenommen. Was verrät dir das?«
»Er ist ein Amateur«, erwiderte Kevin prompt. »Ein Opportunist. Er kennt niemanden, dem er gestohlene Waren andrehen kann, aber Konto-und Kreditkarten kann er benutzen.«
»Gut.« Russ schlug einen Ordner mit der Beschriftung KONTOAUSZÜGE/SCHECKS auf. Er war leer. Er unterdrückte einen Fluch. Sie war so durchorganisiert, dass sie die Auszüge des letzten Jahres bereits in die nächstuntere Lade abgelegt hatte. Er zog sie auf. Und da waren sie, zusammen mit Ordnern mit den Etiketten VISA und MASTERCARD und, o Scheiße, er musste ihre Geschäftsunterlagen durchsehen, weil sie zudem noch eine American-Express-Karte, eine Mastercard und ein Konto für ihr Unternehmen besaß.
»Hier, halt mal«, sagte er und drückte die Ordner Flynn in die Hände. Er riss die anderen Schubladen auf, blätterte durch
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