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Wer Mit Schuld Beladen Ist

Wer Mit Schuld Beladen Ist

Titel: Wer Mit Schuld Beladen Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Henry. Natürlich« – und plötzlich hörte man jedes Einzelne ihrer fünfundsiebzig Jahre – »können wir nichts unternehmen, bis der Pathologe mit dem fertig ist, was er tun muss. Das habe ich auch ihrer Schwester gesagt, doch sie wollte unbedingt herfliegen. Janets Mann ist nach Albany gefahren, um sie abzuholen.«
    Clare lächelte dünn. »Klingt wirklich, als hätten Sie alles im Griff.« Sie sah sich in der Küche um. Selbstgehäkelte Topflappen teilten sich den Platz mit Flugblättern mit der Aufforderung STOPPT DIE BAGGER. Am altmodischen Kühlschrank hielten Magnete Zeichnungen der Enkelkinder und Zeitungsartikel über den sauren Regen. Ganz anders als die Küche ihrer Großmutter Fergusson in North Carolina, doch die Atmosphäre war dieselbe. Als hätte man das Rennen gemacht und brächte die Punkte nach Hause.
    »Ich sollte jetzt gehen«, sagte sie, machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben.
    Margy legte ihre Hand auf Clares. Die Knöchel waren geschwollen. Arthritisch. Das war Clare noch nie aufgefallen. »Es gibt etwas, worüber ich mit jemandem sprechen muss.«
    Clare sah sie an.
    »Sie wissen vermutlich, dass Russ vor zehn Tagen wieder zu mir gezogen ist. Es schien ihm gutzugehen. Er ging zu dieser Eheberatung, die sie machten, und war immer sehr ausgeglichen, wenn er wiederkam.«
    Clare nickte.
    »Aber am Sonntag ist er weg gewesen. Er hat nicht gesagt, wo er hinwollte. Ich will nicht behaupten, dass er nicht hier geschlafen hat, aber gesehen habe ich ihn erst Montagmittag. Er war … es hat mich daran erinnert, wie er damals aus Vietnam heimkehrte. Als wäre sein Körper hier, aber der ganze Rest woanders. Und wo auch immer er gewesen war, es war kein guter Ort. Er ging direkt nach oben und hat sich hingelegt, am helllichten Tag. Das sieht ihm gar nicht ähnlich.«
    Margy presste die Lippen fest zusammen. »Die Sache ist die, das war, ehe wir von Linda erfuhren. Ich bin … es hört sich furchtbar an, aber ich mache mir große Sorgen um ihn. Ich mache mir Sorgen, dass etwas …«
    Clare öffnete den Mund, um Margy zu unterbrechen, was auch immer sie sagen wollte, doch sie bekam keine Chance. Die Küchentür schwang auf, und Russ stapfte herein.
    Margys Hand umklammerte Clares. »Schätzchen«, sagte sie.
    Russ erstarrte, die Tür noch immer geöffnet, den karierten Schal halb vom Hals gelöst.
    »Reverend Clare ist vorbeigekommen, um mir ihr Beileid auszusprechen.«
    Russ’ Brille beschlug in der feuchten, warmen Luft. Er nahm sie ab und steckte sie in die Brusttasche. Sonst regte sich nichts.
    Margy seufzte. »Mach die Tür zu, Russ.«
    »Ja, Ma’am«, antwortete er. Der Befehl seiner Mutter schien den Bann zu brechen, und er wandte sich von ihnen ab, schloss die Tür und schlüpfte aus seinem Parka, den er an einen Haken an der Rückseite der Tür hängte.
    Er warf seinen Schal auf die Waschmaschine und bückte sich, um seine Stiefel aufzuschnüren. Als er sich wieder aufrichtete, starrte er Clare direkt an, und sie spürte seine Aufmerksamkeit wie einen physischen Schmerz in der Brust. Mit seinem rotbraunen Haar und den Sonnen-und Lachfältchen um die Augen hatte er sie immer an den Sommer erinnert, doch jetzt war sein Gesicht winterverwüstet, sein Blick spiegelte eine innere Kälte, die so tief und absolut war, dass er bei einer Berührung zerspringen mochte.
    Margy stand auf. »Ich muss die saubere Wäsche nach oben bringen«, sagte sie zu einem unsichtbaren Dritten irgendwo zwischen Russ und Clare. Sie hob den Wäschekorb aus Plastik auf und ging aus dem Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Clare wollte flüchten, durch die Tür, in ihr Auto, zurück in die Stadt. Sie wollte Russ in die Arme schließen und seinen nackten Schmerz vertreiben. Der erste Impuls war unwürdig. Was den zweiten betraf – sie hatte weder das Recht noch die Macht, seinen Schmerz zu lindern.
    Stattdessen stand sie auf. Langsam. »Dein Verlust tut mir so leid, mehr, als ich in Worte fassen kann.« Sie biss sich auf die Unterlippe und dankte Gott, dass sie sich eben bei Margy ausgeweint hatte. »Ich weiß, dass du … dass du sie sehr geliebt hast.«
    »Ich habe sie umgebracht.« Er sprach leise.
    »Was?« Einen Moment lang, nur eine Sekunde, schoss ihr durch den Kopf, was seine Mutter gesagt hatte: Es hört sich furchtbar an, aber ich mache mir große Sorgen um ihn. Er konnte doch nicht … er hatte doch nicht …
    Zu spät wurde ihr bewusst, dass er ihr ihre Gedanken vom Gesicht ablesen konnte. Darin war

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