Wer morgens lacht
Wohngemeinschaft ziehen, davon habe er seit Jahren geträumt. Den Ausschlag gab schließlich Jakob, der meinte, wir sollten ihn nicht für den Reichtum seines Vaters büßen lassen, er sei doch offenbar ganz anders. Geben wir ihm die Chance, sagte er. Und Kevin hat uns nicht enttäuscht, auch wenn er mir manchmal ein bisschen jung und unbedarft vorkommt.
Im Wohnzimmer brennt nur die Stehlampe in der Ecke und wirft ihr indirektes Licht auf das, was wir großspurig unsere Sitzgruppe nennen, ein abgewetztes, braunes Cordsofa und zwei vielleicht noch abgewetztere Sessel, die bei dieser Beleuchtung aber ganz passabel aussehen, auch die Flecken und die abgetretenen Stellen im Teppich werden von den sanften Schatten barmherzig gedämpft. Ricki sitzt auf dem Sofa, ein Bein unter den Körper gezogen, und knabbert an einer Salzstange, sie hat eine schwarze Jeans und den moosgrünen Pullover an, in dem sie mir besonders gut gefällt, und im sanften Licht der Stehlampe sehen auch ihre Haare sanfter aus, dunkler, fast wie eine Kastanie, die gerade aus der Schale platzt, ein Vergleich, der sich wegen der Farbe ihres Pullovers aufdrängt. Jakob in einem braunen T-Shirt und Kevin in einem dünnen, dunkelblauen Kaschmirpullover haben es sich in den beiden Sesseln bequem gemacht. Auf dem Tisch stehen nicht nur Gläser und eine Flasche Wein, sondern auch eine Schale mit Erdnüssen und eine mit Chips.
Ich bin nicht sicher, ob es immer so gut ist, Familiengeheimnisse aufzudecken, sagt Jakob gerade, als ich den Raum betrete, zumindest nicht auf diese Art und in der Öffentlichkeit, man muss ja nicht immer alles an die große Glocke hängen. Er sitzt mit dem Rücken zur Tür, aber als er sieht, dass die beiden anderen mir entgegenlachen, dreht er sich um und strahlt mich an, hi, Anne, das ist aber schön, dass du endlich aus der Versenkung auftauchst, wir haben dich schon vermisst.
Hast du mit deiner Abschlussarbeit angefangen, erkundigt sich Ricki, und Kevin fragt, willst du ein Glas Wein? Ohne meine Antwort abzuwarten, steht er auf, geht an mir vorbei in die Küche und kommt mit einem sauberen Glas und einer neuen Flasche Wein zurück.
Ich habe mich inzwischen zu Ricki gesetzt, die mich mit einem Kuss mitten auf den Mund begrüßt hat, das tut sie immer, nicht das übliche Küsschen auf die eine Wange und vielleicht ein zweites auf die andere, nein, bei ihr heißt ein Kuss Lippen auf Lippen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, genieße das Gefühl warmer Vertrautheit, obwohl es mich anfangs immer ein bisschen verunsichert hat, es war mir ungewohnt, fast peinlich, bei uns zu Hause wurde nicht viel geküsst, schon gar nicht auf den Mund, ich glaube, ein Kuss auf die Stirn war das höchste der Gefühle.
Nein, ich habe noch nicht mit meiner Arbeit angefangen, sage ich, ich bin noch immer dabei, mich durch das Material zu wühlen, ich habe noch nicht einmal ein Thema, das ich vorschlagen könnte, Pilze ist ein viel zu umfangreiches Gebiet, ich muss mir irgendetwas aus dem großen Ganzen auswählen und mich darauf beschränken und diese Entscheidung fällt mir schwer. Ich beuge mich vor, nehme mir ebenfalls ein paar Chips und frage, wie seid ihr denn auf Familiengeheimnisse gekommen?
Ricki trinkt einen Schluck, bevor sie mir erklärt, eine von Jakobs Kommilitoninnen habe heute beim Mittagessen in der Mensa von einer Familienaufstellung erzählt und auf einmal habe der ganze Tisch darüber diskutiert. Weißt du überhaupt, was das ist, eine Familienaufstellung?, fragt sie.
Nicht wirklich, sage ich.
Das ist eine Methode, bei der ein Mensch mit psychischen Problemen aus einer Gruppe bestimmte Leute aussucht und sie stellvertretend für die Mitglieder seiner Familie aufstellt, erklärt Jakob, der immer gern bereit ist, Erklärungen abzugeben, was einerseits oft ganz hilfreich ist, andererseits aber auch manchmal nervt. Der Patient arrangiert die Stellvertreter, sagt er, und je nachdem, wie sie zueinander stehen, in welcher Entfernung voneinander, ob sie sich anschauen oder einander den Rücken zukehren und in welche Richtung sie schauen, drückt sich das Beziehungsgeflecht innerhalb der Familie aus und der Patient kann plötzlich Zusammenhänge erkennen, die ihm vorher verborgen waren und die erst durch diese Aufstellung sichtbar werden, Abhängigkeiten, Konflikte, Konkurrenzen, und so ist er in der Lage, seine eigenen Reaktionen auf die Einzelnen zu verstehen und sie besser einzuordnen. Er schweigt einen Moment, nimmt einen Schluck
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