Wer morgens lacht
Familiengeheimnisse handelt es sich dabei eigentlich?, fragt er, ich kann mir absolut nichts darunter vorstellen. Um was soll es gehen? Wenn mein Vater beispielsweise als Jugendlicher geklaut und das verheimlicht hätte, könnte mir das doch nicht solche Probleme machen, dass ich zu irgendeinem Psycho gehen muss, oder?
Jakob grinst, nur wenn er deshalb einen traumatisierenden Gefängnisaufenthalt erlebt und dir immer vorgemacht hätte, er wäre sein Leben lang ein Muster an Bravheit und Anstand gewesen und hätte noch nicht mal bei einer Mathearbeit gespickt, dann könnte es passieren, dass du ein gestörtes Verhältnis zur Realität entwickelst und den Boden unter den Füßen verlierst. Er grinst, aber keine Angst, Kevin, das ist wohl eher unwahrscheinlich.
Quatsch, sagt Kevin, was sollte es mir jetzt noch ausmachen, was mein Vater in seiner Jugend vielleicht angestellt hat?
Es ist viel komplizierter, sagt Ricki, es geht um Dinge, die man sein Leben lang verschwiegen hat, weil man sich für sie schämt und die man nie auszusprechen wagt, und so etwas gibt es in vielen Familien, glaube ich, vielleicht sogar in allen.
Bei uns nicht, sagt Kevin, bei uns gibt es nichts, wofür wir uns schämen, meinem Vater ist höchstens mal sein dickes Bankkonto ein bisschen peinlich, zum Beispiel wenn seine Schwester und ihr Mann zu Besuch kommen, da zeigt er auf einmal echt englisches Understatement.
Ricki schaut Kevin mit einem Blick an, der irgendetwas zwischen Neugier und Mitleid ausdrückt, vielleicht das, was Jakob immer Rickis notorische Empathie nennt, und sagt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei euch in der Familie wirklich nichts gab, was du nicht verstanden hast, nichts, was dir Angst gemacht hat.
Nein, sagt Kevin, bei uns ist alles ganz einfach, mein Vater liebt seine Arbeit und sein Geld, und meine Mutter liebt es, sein Geld auszugeben, was wäre daran unverständlich oder gar beängstigend?
Er kommt mir vor wie ein Alien, eine solche Familie kann ich mir nicht vorstellen, er stammt aus einer anderen Welt, denke ich, eine, auf die kein Schatten aus Vierzighuben im Schönhengstgau fällt, vermutlich weiß er gar nicht, dass es solche Orte wie Vierzighuben überhaupt gibt beziehungsweise gab, denn heute heißt der Ort Lány und ist zu einem Stadtteil von Svitavy, ehemals Zwittau, geworden.
Da höre ich Ricki fragen, und dich liebt deine Mutter nicht?
Mich? Kevin lacht, aber sein Gesicht wird plötzlich ausdruckslos, sein Lachen hat nichts mehr von seiner üblichen Unbekümmertheit und plötzlich sieht er älter aus. Ich bin ihr Lebensinhalt, sagt sie immer, sie würde alles für mich tun, allerdings frage ich mich manchmal, ob sie mit diesem Alles-tun meint, dass sie mir alles kaufen würde, was ich mir wünsche.
Na ja, sagt Ricki, gießt sich noch mal Wein ein und hebt das Glas, cheers, ich schleppe, du schleppst, er schleppt, wir schleppen alle, that’s life, jubidubi .
Ich schleppe nicht, protestiert Kevin und sieht wieder aus wie immer, ich bin ein offenes Buch.
Ricki wirft ihm wieder einen dieser Blicke zu und sagt, kann ja sein, aber wenn du anfängst, in diesem Buch zu lesen, wirst du vielleicht feststellen, dass du bestimmte Abschnitte oder ganze Kapitel gar nicht entziffern kannst, weil sie in einer fremden Schrift geschrieben sind oder in einer Sprache, die du nicht verstehst, und dann bringt dir das offene Buch auch nicht viel. Wart’s nur ab.
Ich mische mich ein, das hat meine Großmutter auch immer gesagt, wart nur, wart nur, wirst schon sehen. Ich versuche, Omis Stimme nachzumachen, ihren Tonfall, ihren Rhythmus.
Das klingt ja wie eine Beschwörungsformel, sagt Ricki.
Ich nicke und sage, ja, so war es auch gemeint, eine Beschwörung und eine Warnung vor der bösen Welt. Im Warnen war sie überhaupt ganz groß, ein anderer Spruch von ihr war: Wer morgens lacht und mittags singt, am Abend in die Hölle springt.
Ricki berührt meine Hand, eine flüchtige Berührung, und sagt leise, wie traurig muss eine Frau sein, die so etwas sagt.
Ja, gebe ich zu, erschrocken, weil mir auf einmal klar wird, wie recht sie hat. Wenn ich Omi mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, wäre es traurig . Ja, sie war eine traurige Frau, sage ich noch einmal, sie hat jeder Form von Freude und Glück misstraut.
Sie hat dem Leben misstraut, sagt Ricki und spricht weiter, aber ich höre ihr nicht mehr zu, ihre Stimme wird zu einem fernen Plätschern, ich verstehe weder, was sie sagt, noch das, was Jakob
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