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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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oder Kevin antworten, weil ich in Gedanken meine Familie auf der Bühne aufstelle, zu einer neuen Realität, und dieses Spiel fasziniert mich auf einmal mehr als alles, was um mich herum geschieht.
    Ich stelle Omi in die Mitte, meine Mutter rechts neben sie, mit dem Rücken zu ihr, aber nicht so weit entfernt, wie sie es vermutlich gern hätte, sie strebt von ihr weg und hat das eine Bein schon vorgestreckt. Marie flieht vor allen, vor unserer Mutter, vor unserer Omi, vor unserem Vater und vor mir, von ihr sind am Rand des Bildes nur noch die Füße zu sehen, nackte Füße mit blau lackierten Nägeln, der Rest verschwindet schon hinter den Kulissen, die auf einmal zu Johannisbeersträuchern geworden sind. Und ich stehe zwischen Omi und meiner Mutter, den einen Arm nach der einen ausgestreckt, den zweiten nach der anderen, und fühle mich so zerrissen wie das berühmte Kind im Kreidekreis, ohne dass eine der beiden Anstalten macht, mich zu packen und zu sich zu ziehen. Warum eigentlich nicht? Das gehört doch dazu. Und mein Vater? Er hätte im Schuppen hinter dem Haus sein müssen, bei seinen Hasen, da war er doch immer, aber da ist er nicht, er steht mitten im Bild, ein paar Schritte hinter den anderen, und hat alles im Blick. Wie ein Aufseher, wie ein Regisseur. Warum ist mir das nie aufgefallen? Nur weil er so selten etwas gesagt hat, nur weil ich nie auf die Idee gekommen bin, ihn zu fragen, was er denkt?
    Ich mache die Augen auf und sehe, dass Ricki mich beobachtet, so wie ich sie vorher beobachtet habe. Sie sieht mitleidig aus, denke ich, oder bilde ich mir das nur ein? Nimm dich in Acht, Anne, sage ich mir, du warst noch nie gut darin, Situationen richtig einzuschätzen. Wir belauern uns gegenseitig, aber stimmt das? Vielleicht gehen wir nur achtsam miteinander um, vielleicht ist das ganz richtig so.
    Das dritte Glas gibt mir den Rest, ich werde sentimental, spüre, wie das alte Selbstmitleid in mir aufsteigt, das ich so gut kenne, und auch jetzt kann ich mich nicht wehren. Ich bin zweiundzwanzig, denke ich, und habe noch nichts hingekriegt, ich habe noch nie etwas Richtiges erlebt, noch nicht einmal eine richtige Liebesgeschichte, Marco war nichts Richtiges, oder besser gesagt, mit ihm war nichts richtig, und mit Torsten erst recht nicht, irgendwann muss es doch mal passieren, irgendwann muss etwas richtig sein.
    Vielleicht sollte ich Kevin verführen? Er sieht gut aus, sehr gut sogar, aber er ist zu jung, drei Jahre jünger als ich, manchmal fühle ich mich ihm gegenüber wie eine alte Frau, was weiß er schon von der Welt? Doch dann denke ich, und was weiß ich? Er war in Amerika, ich nicht, er ist mit seinen Eltern schon durch die ganze Welt gereist, ich war nur einmal in Rom, eine Klassenfahrt in der Elften, er kennt sich aus mit Theatern und Opernfestspielen, ich nicht, er versteht etwas von Gourmetrestaurants, ich nicht, er kann tanzen, ich nicht, er kann sich mit jedem unterhalten, ohne Hemmungen zu haben, ich nicht. Aber zugleich ist er auch tapsig wie ein junger Hund, tapsig und unbefangen, und ich spüre, wie Neid in mir aufsteigt, so wäre ich auch gern, so unbefangen und unbeschwert, ja, das ist das richtige Wort, unbeschwert. Morgens lachen, mittags singen und abends in die Kiste springen. Das ist frivol, sagt Marie, die auf einmal hinter mir steht, ich erkenne den Geruch von Räucherstäbchen, der sich in ihrer Kleidung festgesetzt hat. Das passt nicht zu dir, Anne, sagt sie und es klingt fast ein wenig mitleidig. Oder neidisch? Das ist es, was ich gemacht habe, sagt sie, ich habe morgens gelacht und mittags gesungen und abends bin ich in die Kiste gesprungen. Und weißt du, wo ich gelandet bin? In der Hölle.
    Mir wird schwindlig.
    Das ist der Wein, denke ich, drei Gläser, daran bin ich nicht gewöhnt, ich muss hier weg, das hier ist keine andere Realität, wie habe ich bloß so etwas denken können, ich weiß doch längst, dass man sich immer selbst mitnimmt und dass man immer in der eigenen Welt ankommt, egal wie weit man vor ihr flieht, das ist simpelste, platteste Psychologie aus Frauenzeitschriften.
    Rickis Augen lassen mich nicht los, als ich leicht schwankend aufstehe, und ich sehe ihr an, dass sie versteht, weiß aber nicht, was, ich verstehe es ja selbst nicht. Aber irgendwie ist es auch gut so.

Fünf
    Das Bemühen um Wahrheit, wenn es sich um Erinnerungen handelt, ist oft schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Was man für eine reale Erinnerung hält, hat man, wenn man

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