Wer nach den Sternen greift
fuhr fort: »Aber meine Schwiegermutter belohnte mich. Sie war mir dankbar. Natürlich hatte der Prince of Wales vermutlich so viele Frauen geschwängert, dass halb England königlichen Geblüts ist. Meiner Schwiegermutter war klar, dass der Herzog sich jederzeit von mir scheiden lassen konnte oder dass ich mittellos dastünde, wenn er stürbe. Also schenkte sie mir ihre Diamantentiara, die sich im Safe einer Londoner Bank befindet, so dass ich mir immer ein Leben im Luxus leisten kann.«
»Und niemand weiß davon?«
»Du bist die Erste.«
»Wirst du es Ben erzählen?«
»Nein.«
Eine Weile saßen sie schweigend da, bis Alex schließlich die nächste Verbandrolle ergriff und weitermachte.
»Sag mir bitte Bescheid, was Ben auf deinen Antrag geantwortet hat, ja?«
53
Z ur Überraschung aller war Oliver kein anstrengender Patient. Er redete wenig, und Alex konnte gut verstehen, warum er nie lächelte.
Nachmittags las Clarissa ihm vor, damit Louise ein oder zwei Stunden frei hatte. Bei dieser Gelegenheit verkündete sie ihm eines Tages, dass sie Ben heiraten würde. Alex beobachtete ihn dabei. Er dachte bestimmt, dass seine Mutter unter ihrem Stand heiratete, aber er schwieg und starrte blicklos vor sich hin.
»Er wird zu mir ziehen«, sagte Clarissa lächelnd. »Wir dachten an eine kleine Hochzeit und wollten sie hier abhalten, damit du auch teilnehmen kannst, Oliver.« Sie wartete seine Reaktion gar nicht erst ab und fuhr gleich fort: »Er wusste nur nicht, ob er seinen Collie mitbringen konnte, aber ich habe ihm gesagt, dass bei uns jeder Hund willkommen ist.«
Seit Oliver ans Schloss gefesselt war und in London die ersten nächtlichen Luftangriffe stattfanden, wurde das Haus am Grosvenor Square nur noch selten genutzt. Da Lina die Woche über in der Schule war, langweilte Michael sich ein wenig und verbrachte lange Stunden im Zimmer seines Vaters, um zu malen. Der Geruch des Terpentins jedoch verursachte Oliver solche Übelkeit, dass er dem Jungen vorschlug, es mit Aquarellfarben zu versuchen. Außerdem bat er Louise, den Tisch für Michael nach Norden auszurichten, weil er gehört hatte, dass Nordlicht zum Malen das Beste war.
Als Alex eines Nachmittags bei Oliver vorbeischaute, äußerte er eine Bitte.
»Ich bin dieses eine Zimmer so leid. Ich möchte ein Wohnzimmer, oder wie immer du es nennen willst, haben. Hier an diesem Flur liegen lauter unbenutzte Zimmer. Was hältst du davon, wenn wir eine Wand einreißen und einen großen Raum daraus machen? Außerdem hätte ich gerne meine Gemälde aus London hier. Sie sollen nicht von Bomben oder Feuer zerstört werden, und ich möchte sie anschauen können. Und Michael sicher auch.«
»Ich habe sowieso schon überlegt, ob es nicht besser für dich wäre, wenn du im Westflügel eine Suite beziehen würdest. Dann wärst du nicht so allein. In unserem Flügel gibt es schließlich auch noch genügend unbenutzte Räume, und ich kann leicht eine Wand einreißen lassen, damit du genug Platz für deine Gemälde und die eiserne Lunge hast. Du bist ja ursprünglich nur hier untergebracht gewesen, weil wir Angst vor einer Ansteckung hatten. Und im Westflügel ist auch genügend Platz für Louise.«
»Und besorg Michael eine Staffelei.«
Alex blickte ihn an. Was für eine Ironie, dachte sie. Das einzige Kind, mit dem er etwas gemeinsam hat.
»Madam«, sagte Reginald, »ein Besucher erwartet Sie.«
»Wer ist es?«
»Er hat seinen Namen nicht gesagt und wollte nicht hereinkommen, aber ich glaube, ich habe trotz der Dunkelheit den französischen Herrn erkannt.«
Es konnte unmöglich Philippe sein. »Führen Sie ihn herein.«
»Er möchte Sie lieber draußen treffen.«
»Es regnet in Strömen.«
»Er hat mir aufgetragen, Ihnen ›Polarstern‹ zu sagen. Und er erwartet Sie in seinem Auto.«
»Wo ist mein Regenmantel?«
»Im Schrank neben der Haustür, Madam. Und ihre Gummistiefel auch.«
Warum wollte Philippe sie bei diesem Wetter draußen vor der Tür treffen? Rasch schlüpfte sie in ihre Regensachen und lief die Eingangstreppe hinunter. Vor dem Haus stand ein zerbeultes, schmutziges Auto mit laufendem Motor. Die Tür auf der Beifahrerseite öffnete sich, als sie darauf zuging.
»Komm rasch herein«, sagte Philippe.
Er küsste sie flüchtig und fuhr los. »Wohin fahren wir?«, fragte Alex.
»Ich muss dir etwas zeigen«, erwiderte er. Er war unrasiert, und seine Haare kringelten sich im Nacken und über den Ohren.
»Wie bist du nach England
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