Wer nach den Sternen greift
und ihnen zuhört. Hört Ben dir eigentlich zu?«
Clarissa riss verwundert die Augen auf.
»Na?«, drängte Alex. »Hört er dir zu?«
»Ich glaube, ich habe gar nicht so viel zu sagen. Und vieles von dem, was ich sage, ist sowieso nicht so interessant.«
Alex schüttelte den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein! Also, mich hast du noch nie auch nur eine Minute lang gelangweilt.«
Clarissa beugte sich vor. »Tatsächlich?«
Alex lächelte. »Ja, es stimmt. An all den Abenden, die wir in den letzten neunzehn Jahren miteinander verbracht haben, habe ich deine Gesellschaft immer sehr genossen.«
»O Liebling, wie reizend von dir, mir so etwas zu sagen. Ich hatte ständig das Gefühl, absolut langweilig zu sein. Und vor allem verglichen mit dir. Du sprudelst ja förmlich über vor neuen Ideen …«
Clarissa ergriff den Verband, den sie gerade aufgerollt hatte, und betrachtete ihn. »Ich habe mir mein ganzes Leben lang gewünscht, neben jemandem aufzuwachen, der mich anschaut und denkt, dass er nur bei mir sein möchte. Ich bin zweiundsechzig Jahre alt, und es ist noch nicht zu spät dazu. Als ich dreißig war, glaubte ich, es sei zu spät, aber jetzt weiß ich, dass es immer noch möglich ist.«
Vielleicht hatte Clarissa ja recht, dachte Alex. Aber es war eben nicht jeder für die Ehe geeignet. Von Frauen wurde erwartet, dass sie heirateten, und wenn sie es nicht taten, wurden sie mitleidig als alte Jungfern belächelt. Es gab kein schlimmeres Schicksal für eine Frau. Aber Alex sah das nicht so. Andererseits war für Clarissa eine zweite Ehe vielleicht wirklich gut, weil sie in ihrer ersten nicht glücklich gewesen war. Und überhaupt, was würden all die Frauen, die finanziell abhängig waren, ohne Ehe anfangen? Alex wusste, dass sie privilegiert war, weil sie zumindest nie Armut fürchten musste.
»James ist übrigens vor ein paar Tagen bei mir gewesen«, sagte Clarissa. »Er kam vormittags um halb elf, was ganz ungewöhnlich für ihn ist, und sagte, er wolle mit mir sprechen. Dann räusperte er sich stundenlang, und schließlich sagte er: ›Oh, meine Liebe, du weißt sicher, dass ich dich seit vierzig Jahren liebe.‹ Natürlich wusste ich es, aber wir haben es ja nie ausgesprochen. ›Du und Ben‹, fuhr er fort, ›seid die Menschen auf der Welt, die ich am meisten liebe. Und da ich nicht glaube, dass eine
Menage à trois‹«
– Clarissa lachte –, »ist das nicht ulkig? Er sagte wahrhaftig: ›Ich glaube nicht, dass eine
Menage à trois
in unserem Alter funktionieren würde, und deshalb möchte ich, dass ihr beide euer Glück findet, bevor es zu spät ist. Wir sind alle nicht mehr die Jüngsten, und eigentlich wollte ich mich schon längst zur Ruhe setzen. Aber jetzt, wo Krieg ist, sind die jungen Ärzte natürlich alle eingezogen worden, und wir alten Knaben müssen auf die Zivilbevölkerung aufpassen.‹ Dann blickte er mich an und sagte: ›Du liebe Güte, Clarissa, willst du mir nicht endlich einen Stuhl anbieten?‹ Irgendwie war er verlegen und souverän zugleich. ›All die Jahre habe ich dich geliebt‹, sagte er, ›wollte frei sein, dich zu lieben, mit dir einzuschlafen und mit dir aufzuwachen, aber als dann Ben kam, da wusste ich, dass ich dich verloren hatte. Ich wusste es schon, als ich ihn das erste Mal mit zu unserem Donnerstagstee brachte. Danach war es nicht mehr dasselbe zwischen uns. Wir gingen nicht mehr so intim miteinander um wie vorher. Ich merkte, als es geschah, aber ich konnte es Ben nicht übelnehmen, da wir beide ja nicht frei füreinander waren. Und da standen wir nun, zwei Brüder im mittleren Alter, und liebten beide dieselbe Frau. Es wäre eine traurige Situation gewesen, wenn wir uns nicht so gut verstanden hätten. Wenn du sonntags mit ihm zu mir nach Hause zum Essen gekommen bist, hat sogar meine Frau etwas gemerkt. Ich glaube, sie wusste auch, dass wir dich beide lieben. Aber das ist jetzt alles schon so lange her. Damit kann ich leben, Clarissa, aber ich könnte es nicht ertragen, wenn du und Ben euch wegen mir das Glück versagt. Heirate ihn, meine Liebe. Heirate ihn und werde meine Schwester, die Liebe meines Lebens.‹ Ich saß einfach nur da und riss Mund und Augen auf.«
Clarissas Augen schimmerten feucht.
»Hattest du denn nie vorher mit Ben darüber gesprochen, dass ihr heiraten wolltet?«
Clarissa schüttelte den Kopf. »Nein, darüber haben wir nie geredet. Obwohl« – verschwörerisch senkte sie die Stimme – »wir schon vor dem Tod des
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