Wer nichts hat, kann alles geben
schon lange vorher begonnen. Irgendwann war etwas in Bewegung geraten, das sich nicht mehr aufhalten ließ. Auf die Frage nach dem Sinn dessen, wofür wir da jeden Tag aufstanden, hatten wir irgendwann beide keine überzeugende Antwort mehr. Die Freiheit, die wir uns erarbeitet hatten, war nicht mehr als eine Hülle ohne Inhalt, das viele Geld, das wir verdient hatten, konnte diese Leere nicht mehr füllen. Es ging uns nicht besser als so vielen in unserer Gesellschaft, die irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sie sich mit einer sehr unangenehmen Erkenntnis herumschlagen müssen: dass ihnen das, was sie Tag für Tag tun, einigermaßen sinnlos erscheint. Nichts lastet schwerer auf dem Gemüt.
Viele Menschen führen ein Leben, das sie nicht glücklich macht, von dem sie wissen, dass es an ihren eigentlichen Wünschen vorbeiführt. Doch sie tun es, weil sie sich denken: »Es ist nicht schön, wie sich mein Leben entwickelt hat – aber es ist auch nicht schlimm.« Das ist ein großer Irrglaube, in dem wir bewusst gehalten werden, von der Politik ebenso wie von der Industrie. Man redet uns ein: So schlimm ist dein Leben doch gar nicht. Denn erstens geht es anderen noch viel schlimmer. Man kann das ja jeden Tag sehen,
wenn man den Fernseher einschaltet und die Nachrichten von Katastrophen, Verbrechen und Unfällen sieht. Die wollen uns vordergründig zwar informieren, dienen aber auch dazu, in uns die Befürchtung zu säen, dass alles noch viel schlimmer sein könnte.
Und zweitens wird ja genug Ersatz geboten. Traumreisen, Autos, sogar Lebensmittel, die vermeintlich glücklich machen, und abends einen romantischen Film im Fernsehen. Und so rutscht man langsam und unmerklich in eine Identität, die man brav erfüllen kann, und nimmt gar nicht wahr, dass man an der eigenen Existenz vorbeilebt. Man führt ein vorgekautes Leben, von dem ein anderer sagt, es sei das eigene.
Mir kann keiner weismachen, dass man das nicht spürt. Jeder von uns merkt es früher oder später, so wie ich auch. Doch viele wollen dieses Gefühl schlicht nicht wahrhaben. Wer am Montagmorgen mit verkrampftem Magen und aufgestellten Nackenhaaren ins Büro geht, muss nicht mehr lange darüber nachdenken, ob er dieses Leben gerne führt. Er muss allenfalls Gründe dafür finden, warum er den Job nicht hinwirft. Der Bauch sagt doch schon längst: »Raus jetzt, und zwar schnell!« Doch es ist der Kopf, der ihn beschwichtigt: »Na, na, langsam. Du hast eine sichere Anstellung und ein regelmäßiges Einkommen. So schlimm ist es doch gar nicht.«
Ein großes Problem unserer Zeit ist, dass die meisten Menschen ihrem Kopf, ihrem Intellekt viel zu viel Macht einräumen. Sie hören nur auf das, was ihnen die Vernunft einredet und wovon die Gesellschaft sagt,
dass es wichtig sei: vorzeigbarer Besitz, Geld, Macht, Einfluss. Viele spüren zwar, dass sie dadurch in ihrem Leben falsche Prioritäten setzen, dass sie viel Zeit und Energie in Ziele investieren, mit denen sie sich insgeheim gar nicht identifizieren können. Doch sie scheuen sich davor, sich selbst und ihren Kopf infrage zu stellen. Denn das hätte womöglich zur Folge, dass sie sich eingestehen müssten, viel zu lange den falschen Dingen hinterhergerannt zu sein.
Doch was bleibt Menschen, die ihr Leben streng danach ausgerichtet haben, Normen zu erfüllen, die gar nicht die ihren sind? Nichts. Sie müssen von vorne beginnen. Das ist mühsam, das ist anstrengend. Das ist ein Prozess, der einen Jahre kosten kann. Und je später man damit beginnt, desto schwieriger wird es, sich dazu überwinden zu können. Man fühlt sich wie ein Marathonläufer, der auf halber Strecke erkennt, dass er in die falsche Richtung gelaufen ist. Kann man sich dann noch dazu aufraffen, an den Ausgangspunkt zurückzukehren und eine andere Richtung einzuschlagen?
Ich kann verstehen, dass die meisten diese Strapazen scheuen. Ich war über viele, viele Jahre meines Lebens ja genauso. Mein Kopf konnte meinen Bauch immer wieder überzeugen, Ruhe zu geben. Bis mein Bauch irgendwann nicht mehr bereit war, sich noch länger hinhalten zu lassen. Nun übernahm er das Steuer.
Ich spürte, dass ich die Sinnlosigkeit langfristig nur würde überwinden können, wenn ich einen Weg finden
würde, mich nicht nur für mich selbst zu engagieren, sondern auch für andere. Ich wollte ihnen nicht länger nur in Form von Glücksbringern Glück bescheren. Meine Segelflugreisen führten mich in dieser Zeit immer wieder nach Südamerika, nach
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