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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Rabeder
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Chile oder Argentinien, wo ich, anders als damals auf Hawaii, oft in Kontakt kam mit Einheimischen. Gerade wenn es ärmere Leute waren, wurde ich besonders aufmerksam.
    Bei einem dieser Aufenthalte hatte ich das Glück, als Copilot bei einem ganz besonderen Weltrekord dabei zu sein, dem längsten Flug, der je mit einem Segelflugzeug geflogen wurde. Mit dem Deutschen Klaus Ohlmann am Steuer eines Doppelsitzers flog ich am 21. Januar 2003 exakt 3009 Kilometer weit. Klaus ist ein begnadeter Pilot, der schon viele Weltrekorde geflogen hat. An diesem Tag beschränkte sich mein Anteil deshalb im Wesentlichen darauf, sein Mentalcoach und die Rechenzentrale zu sein. Meine Aufgabe war es, zur beschleunigten Entscheidungsfindung beizutragen und Energien zu mobilisieren.
    Klaus und ich waren ein sehr harmonisches Team, ich war schlicht zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Es war ein ähnlicher Wellenflug wie damals in Neuseeland, wir waren insgesamt fünfzehn Stunden in der Luft und hatten unterwegs mehrmals den Eindruck, dass wir unser Ziel wegen der Wetterlage nicht erreichen würden. Am Ende schafften wir es aber doch. Als wir aus unserem Flugzeug ausstiegen, klatschten wir kurz in die Hände und gingen etwas essen. Im
Gegensatz zu dem in Neuseeland ist dieser Weltrekord allerdings einer, den andere überbieten können. Bislang ist das aber noch niemandem gelungen.
    Nach Aufenthalten in diesen sogenannten Entwicklungsländern stellte ich die Regeln immer deutlicher infrage, nach denen unsere Gesellschaft funktioniert. »Moment mal«, dachte ich, »nach der Theorie, die wir immer vorgelebt bekommen, müssten die doch, weil arm, unglücklich sein. Und ich, weil nicht arm, höchst glücklich.« Die Realität sah aber anders aus: Die Menschen dort waren die, die über das ganze Gesicht lachten und strahlten und deren Augen vor Lebensfreude funkelten. Wenn ich dann nach dem Rückflug in London-Heathrow oder am Frankfurter Flughafen ankam, hatte ich jedes Mal das Gefühl: Da muss es einen Terroranschlag gegeben haben, eine Giftkatastrophe, was auch immer.
    Einmal habe ich tatsächlich einen Herrn am Schalter gefragt: »Entschuldigen Sie, war hier etwas Besonderes, was ich nicht mitbekommen habe?« Er entgegnete hastig: »Wieso, was soll’n passiert sein?« Ich antwortete: »Langsam, ich wollte nur wissen, ob irgendetwas Besonderes passiert ist, was Trauriges, eine Katastrophe. « – »Wie kommen Sie denn darauf?« – »Na, weil alle so unglücklich dreinschauen.« Da war er erstmal sprachlos. Und kurz darauf meinte er nur: »Nee, is alles ganz normal!«
    Da fiel bei mir dann der nächste Groschen. Bedeutete das doch, dass unser gesamtes System so funktioniert. Wir reden uns frisch-fröhlich ein, dass wir
zwangsläufig zu einem glücklichen Leben finden werden, wenn wir uns an die Regeln des Kapitalismus halten. Nach diesem Konzept gibt es eine Korrelation zwischen Geld und Glück: Je mehr wir vom einen haben, desto mehr haben wir vom anderen. Aber wenn das stimmen würde, müsste man das Ergebnis doch sehen können: in den Augen und Gesichtern der Menschen. Doch wem die Mundwinkel herunterhängen und wessen Augen stumpf sind, kann beim besten Willen nicht behaupten, ein glücklicher Mensch zu sein – auch wenn er es sich hundertmal einzureden und sich dabei ein Lächeln aus dem Gesicht zu pressen versucht.
    Die Leute dagegen, die ich in Lateinamerika erlebt habe, wohnten in kargen Verhältnissen und trugen einfache Kleidung, doch sie sahen wahrhaft glücklich aus. In deren Gesellschaft fühlte ich mich weitaus glücklicher als unter den Fast-Mumien am Frankfurter Flughafen. Ich dachte mir: Wenn das in Lateinamerika die vermeintlich unglücklichen Armen sind, dann wäre ich selbst gern arm.
    Allerdings: So erhellend solche Erkenntnisse für mich waren, so schwer fiel es mir, sie ohne Umweg in meinen Alltag zu integrieren. Das Wertesystem, das sich über Jahrzehnte in mir entwickelt hatte, war zu tief verwurzelt, als dass ich es von heute auf morgen hätte überwinden können. Anstatt mich auf einen Schlag von meinem bisherigen Leben zu lösen, begann ich damit, es systematisch zu entrümpeln – so wie man ein Gebäude, das aus asbestverseuchten Bauteilen besteht,
langsam abträgt, anstatt es mit einem Knopfdruck in die Luft zu jagen.
    Ich sah mir jeden Gedanken, jede Idee, jede Überzeugung an, die sich im Laufe meines Lebens entwickelt hatte, und fragte mich: behalten oder wegschmeißen? Mir war klar, dass dieser Prozess

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