Wer nichts hat, kann alles geben
Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem zusammen. Die Geschichte hat uns doch gelehrt, dass das nicht gutgeht. Immer wieder kommt es zu katastrophenartigen Abbauprozessen. Auch in der Natur ist jeder Ablauf auf Wachstum und Rückgang angelegt, wie bei Ebbe und Flut. Das einzige System, das stetig wächst, ist der Krebs, und der endet mit dem Tod.
Der Fehler liegt aber nicht in unserem Wirtschaftssystem begründet, ich werde nie zu einem Kommunisten werden, der dem Kapitalismus abschwört. Dass wir in einem System leben, in dem die freien Kräfte des Marktes wirken können, ohne dass sie eine übergeordnete Instanz in eine Zwangsjacke steckt, halte ich für eine Errungenschaft, die wir nicht leichtfertig aufgeben sollten. Auch ich habe als Unternehmer von dieser Freiheit profitiert, sie ist die Grundlage dafür, dass eine Gesellschaft nicht stehenbleibt.
Das Problem ist nur, dass unsere Marktwirtschaft zum Teil absurde Ergebnisse hervorbringt. Natürlich ist es beispielsweise schön, dass wir nicht mehr alle zu Fuß gehen müssen. Zuerst wurden Kutschen gebaut, dann haben Ingenieure das Automobil erfunden. Das bedeutete für die Menschheit einen großen Fortschritt.
Wenn der aber dazu führt, dass sich die Menschen selbst dann ins Auto setzen, wenn sie zwei Kilometer später wieder aussteigen, um ins Kino zu gehen, dann hat dieser Fortschritt eine unerträgliche Perversion erreicht. Die Menschen werden krank, weil sie sich nicht mehr ausreichend bewegen, die Umwelt wird zerstört, weil sie die Luft verpesten und die Natur mit immer breiteren Asphaltbändern bedecken. Das kann nicht das Ziel einer gesunden Marktwirtschaft sein. Und doch gibt es solche Perversionen in vielen Lebensbereichen.
Wir räumen dem Geld einfach eine zu große Dominanz ein. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, um seine Macht zu begrenzen, ist, dass wir lernen, bewusst damit umzugehen. Das bedeutet einerseits, genau darüber nachzudenken, was uns die Dinge, für die wir Geld auszugeben bereit sind, tatsächlich wert sind, andererseits aber auch, dass wir den Erfolg unserer Marktwirtschaft nicht allein danach bemessen, wie viel Geld sie erwirtschaftet. Wenn wir in die Berechnung auch mit einbeziehen würden, wie gesund und glücklich die Mitglieder einer Gesellschaft sind und welche Kosten ihr Verhalten etwa in Form von Umweltschäden verursacht, brächte unsere Gesellschaft einen Fortschritt hervor, der diese Bezeichnung auch wirklich verdient.
Es gibt Gesellschaften, die in dieser Frage schon viel weiter sind als wir, zum Beispiel die des Himalaya-Staates Bhutan. Schon Ende der achtziger Jahre sagte dessen König in einem Interview: »Bei uns ist das Bruttoglücksprodukt
wichtiger als das Bruttosozialprodukt.« Er verordnete seinem Land eine Entwicklung entsprechend seiner buddhistischen Traditionen, die das materielle Wachstum weniger und das Geistig-Spirituelle mehr fördern sollte. Nach den Ergebnissen repräsentativer Untersuchungen leben in Bhutan tatsächlich sehr glückliche Menschen, gemäß dem 2008 in der Verfassung festgeschriebenen Ziel: »Der Staat soll sich darum bemühen, diejenigen Bedingungen zu fördern, die das Streben nach der Erhöhung des Bruttoglücksprodukts ermöglichen.« So gesehen muss man nicht lange überlegen, wo die tatsächlichen Entwicklungsländer liegen – nämlich hier bei uns in Europa.
Wenn etwas »entwickelt« werden muss, heißt das, dass es vorher »verwickelt« war. Eine Entwicklung hat deshalb immer etwas Befreiendes, und ich habe den Eindruck, dass es uns gut zu Gesicht stünde, wenn wir uns die Chance zugeständen, uns unserer eigenen Entwicklungspotenziale bewusst zu werden und die darin liegende Freiheit neu zu entdecken. Der Mensch ist eben nicht nur ein Wirtschaftsobjekt, auch wenn uns das immer wieder aufs Neue eingeredet wird.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich will damit nicht sagen, dass nun jeder von heute auf morgen seinen Job hinschmeißen und sich frei machen soll von allen Zwängen. Es darf sich jedoch jeder Gedanken darüber machen, ob die eigene Situation tatsächlich so lebenswert ist, wie sie zurzeit ist, oder ob sich nicht allein durch die Verschiebung einiger Prioritäten plötzlich
ein menschlicher Weg auftut, der vorher nicht sichtbar war.
Was ich in Gesprächen oft höre, ist der Einwand: »Sie haben leicht reden, Herr Rabeder. Aber was soll ich denn tun? Ich habe schließlich eine Familie zu ernähren. Außerdem: Was wäre ich für ein Vorbild, wenn ich
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