Wer nie die Wahrheit sagt
Hamish lehnte sich auf dem Stuhl vor, die Hände zwischen die Beine geschoben. »Ich habe alles Mögliche gehört, Savich, über das, was auf Antigua passiert ist. Wie läuft der Fall?«
Savich erzählte ihm alles. »Ein paar von unseren Leuten arbeiten daran, rauszufinden, wo sie ihre Illusionskünste gelernt haben könnte, damit wir eine bessere Ahnung davon bekommen, wozu sie fähig ist. Einige andere sind noch auf Antigua und durchkämmen die Gegend im und um den Flughafen herum, befragen die Anwohner, durchsuchen sämtliche Privat- und Charterboote.«
Ollie fragte: »Sie hat aber immer noch nur einen Arm und ist nicht gerade in guter physischer Verfassung, richtig?«
»Ich weiß nicht, wie schlecht es ihr immer noch geht. Der Arzt, der die Amputation vorgenommen hat, meint, wenn sie eine Infektion hat, dann könnte sie ohne Antibiotika innerhalb einer Woche tot sein. Aber wenn sie keine Infektion hat, kann sie die Sache problemlos überstehen. Er meinte, sie hat die Amputation erstaunlich gut überstanden. Ich habe den Doktor gefragt, ob er oder irgendjemand mal irgendwann jemand anderen als Tammy Tuttle gesehen hat oder sie dort sah, wo sie eigentlich nicht sein sollte.«
»Hat er überhaupt verstanden, was du meinst?«
»Ja«, entgegnete Savich langsam, »hat er. Er sagte, ein Wachmann habe mal gesagt, er habe Tammy am Tag nach der Operation zur Toilette gehen sehen. Als er in ihr Zimmer ging, um nachzuschauen, lag sie festgeschnallt im Bett. Keiner hat dem Wachmann geglaubt. Dann ist sie entwischt, und wieder konnte sich keiner einen Reim drauf machen. Na ja, also, Ollie, wie geht’s eigentlich Maria und Josh? Er ist gerade zwei geworden, stimmt’s?«
»Allerdings. Rennt überall im Haus rum, reißt jede Schublade auf und haut auf jeden Topf. Schreit mindestens fünfzigmal am Tag ›nein‹ und ist süßer als der Welpe, den wir uns gerade angeschafft haben, und der hat heute Morgen auf das Hemd gepisst, das ich eigentlich ins Büro anziehen wollte.«
Savich lachte. Jetzt fühlte er sich schon besser. Er nickte Ollie, der sich wieder auf den Weg machte, zu und konzentrierte sich weiter auf MAX.
Eine Stunde später kam ein Anruf. Tammy Tuttle war in Bar Harbor, Maine, gesichtet worden, wo FBI-Agenten ihres und Marilyns Foto überall herumgezeigt und eine Kontaktnummer hinterlassen hatten. Der Besitzer eines Fotoladens hatte bei der Polizei in Bar Harbor angerufen und gesagt, sie habe gerade einen Film zum Entwickeln gebracht und wolle wiederkommen.
»Ich muss an sie rankommen«, sagte Savich zu Sherlock. Er gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und verließ fast rennend die Abteilung. Über die Schulter rief er ihr noch zu: »Ich muss Tammy mit nur einem Arm sehen und nicht irgendwas, was sie mir vorgaukelt.«
»Bitte nicht zu nahe«, rief Sherlock ihm noch hinterher, doch sie glaubte nicht, dass er sie noch gehört hatte.
Es dauerte gar nicht lange und Savich sowie sechs weitere Agenten saßen in einer Maschine, die von der Andrews Air Force Base nach Bar Harbor startete.
Den ganzen Flug über berichtete er den Agenten alles, was er über Tammy wusste. Es war Zeit, dachte Savich und fühlte sich erleichtert, dass alle wussten, womit sie es zu tun hatten.
Eine psychopathische Mörderin, die außerdem Illusionistin und möglicherweise telepathisch veranlagt war. Etwas Derartiges hatte er noch nie erlebt und hoffte, es auch nie mehr erleben zu müssen.
Gerade hatte er den Kollegen alles über die Ghule erzählt, was Marilyn ihm darüber berichtet und auch, was er selbst erlebt hatte. Falls sie ihm nicht glaubten, ließen sie sich jedenfalls nichts anmerken.
Eine Agentin, eine Freundin von Virginia Cosgrove, zweifelte an keinem Wort. Als sie den Jet in Bar Harbor verließen, sagte sie: »Virginia hat mir ein bisschen was von dem erzählt, was sie von Marilyn Warluski wusste. Es war schrecklich, Mr. Savich.«
»Einfach Savich, Mrs. Rodriguez. Das mit Agent Cosgrove bedaure ich aufrichtig.«
»Wir alle, Sir.« Dann gelang ihr ein Lächeln. »Nur Lois, Savich.«
»Gern.«
»Die Sache ist die, Leute«, sagte er zu allen, »wenn ihr sie oder ihn seht« – er hielt allen die Porträtzeichnungen unter die Nase – »keine Mätzchen. Denkt nicht einmal dran, sie lebend festzunehmen. Glaubt nichts, was ihr seht, schießt sofort und schießt, um zu töten. Jetzt gehe ich zu dem Fotoladen und sehe nach, ob dort alles in Ordnung ist. Dann treffen wir uns auf dem Polizeirevier und bereiten alles
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